Der Gott KierkegaardsDie Freiheit als das Absolutevon Dorothea Wildenburg |
"Was
aber ist denn dies mein Selbst?
Wollte ich von einem ersten Augenblick sprechen, einem ersten Ausdruck dafür, so ist meine Antwort: es ist das Abstrakteste von allem, das doch in sich zugleich das Konkreteste von allem ist - es ist die Freiheit." Sören
Kierkegaard, Entweder - Oder
Sören Kierkegaard - Philosoph, Theologe, Psychologe oder Schriftsteller? Der unterdrückte Sohn eines neurotischen Vaters, der treulose Verführer, Fanatiker des Glaubens, pseudonymer Versteckspieler? Ohne Zweifel ist Kierkegaard eine schillernde Figur und sträubt sich gegen jegliche Kategorisierung. Dennoch muß man, will man sich mit seinen Texten wissenschaftlich auseinandersetzen, einen Ort finden, von dem aus man sich eben diesen Texten nähert. "Daß jedes wissenschaftliche Problem innerhalb des weiten Gebiets der Wissenschaft seine bestimmte Stelle, sein Maß und seine Grenze hat", so schreibt er in der 1844 veröffentlichten Schrift Der Begriff Angst, "ist nicht nur ein frommer Wunsch, (...) nicht nur eine heilige Pflicht, (...) sondern dient zugleich dem Interesse jeder mehr besonderen Überlegung (...)." 1 Kierkegaard, ruft "wissenschaftlich zur Ordnung". Kierkegaard, der systemfeindliche Systematiker? Wenn an dieser Stelle ein Ort der Interpretation angegeben wird, so nicht mit dem Anspruch, es sei der einzige oder allein wahre, der andere denkbare Positionen ausschlösse. Der hier eingenommene Ort soll lediglich eine Perspektive eröffnen, die es möglicherweise erlaubt, einen speziellen Blick auf Kierkegaard zu werfen: Kierkegaard: der eine Autor aller pseudonymen Texte, der systemfeindliche Systematiker, der Philosoph, und zwar der Philosoph der Freiheit. Diese Ortsbestimmung schließt jedoch einen der oben genannten Aspekte aus: alle biographischen Hintergründe bleiben unbeachtet, da sie, wenn es um Interpretation der Texte geht, weder der Erklärung dienen noch sonstwie ausagekräftig sind. 2 Diese
globale und daher grobe Ortsbestimmung soll im Folgenden konkretisiert
werden, und zwar anhand der oben bereits erwähnten Schrift Der
Begriff Angst. Das spezielle Problem, das untersucht werden soll, ist
die Frage nach Gott, die Frage danach, wie der Begriff Gott in der genannten
Schrift verstanden werden kann, ohne den Text deshalb verzerren
zu müssen. Auf welche Weise die Begriffe Gott und Freiheit zusammenhängen,
ob ein Bedeutungsunterschied zwischen beiden besteht oder ob es sich um
synonym verwendete Begriffe handelt: diese Fragen zu beantworten war das
Motiv dieser Abhandlung. Und um in diesem Zusammenhang nur eines voranzustellen:
Nicht jeder Philosoph, der den Begriff Gott verwendet, ist deshalb schon
ein theologischer Philosoph oder philosophischer Theologe.2a
Vielmehr ist immer zu fragen, was im einzelnen darunter verstanden wird,
wofür ein solcher Begriff steht. Gott heißt nicht immer "alter
Mann mit Bart im Himmel".
I. Kierkegaard - der Eine Autor aller pseudonymen TextE Sicher ist es zum Verständnis Kierkegaards wichtig zu klären, warum Kierkegaard Victor Eremita, Johannes de Silentio, Constantin Constantinus, Hilarius Buchbinder, Johannes Climacus, Anti-Climacus oder etwa Vigilius Haufniensis seine Stimme leiht. Daß es diskussionswürdig ist, zeigen - nicht nur, aber auch - die unterschiedlichen Theorien, die zur Lösung dieser Frage entwickelt wurden. Diese sollen hier nicht thematisiert werden. Eines erscheint aber entscheidend: Die Rede von Pseudonymen würde sinnlos, wenn man diese nicht auf einen Autor bezöge. Immerhin "erlaubt" der Herausgeber der Gesammelten Werke, Emanuel Hirsch, bezüglich der Schrift Der Begriff Angst ausdrücklich, daß im "Unterschied von andern, echt pseudonymen Schriften (...) jedes Wort im Begriff Angst als Ausdruck von Kierkegaards eigener Meinung gelesen werden"3 darf. Abgesehen von der Frage, was pseudonyme Schriften von echt pseudonymen Schriften unterscheidet, findet sich auch hier (wie bei Adler-Vonessen) ein grobes Mißverständnis: In der Schrift Der Begriff Angst geht es nicht um eine "Meinung" Kierkegaards, es geht vielmehr um bestimmte, philosophische Thesen, die er vertritt und argumentativ zu verteidigen bemüht ist. Warum es gerade Vigilius Haufniensis, der Beobachter von Kopenhagen 4 ist, der von Kierkegaard in diesem Falle zum Autor ernannt wird, erscheint daher eher sekundär. Rein systematisch betrachtet ist es sogar unwichtig, daß es sich bei demjenigen, der diese Thesen aufstellt, um Sren Kierkegaard handelt, wie es letztlich - bezüglich der argumentativen Richtigkeit einer These - in allen Fällen irrelevant ist, wer eine These vertritt. So wird bspw. der kategorische Imperativ nicht deswegen falsch oder richtig, weil Kant es war, der ihn aufgestellt hat. Daß es Kierkegaard war, der Der Begriff Angst verfaßt hat, ist insofern lediglich von philosophie-historischem Interesse. Die Pseudonymität hingegen kann - in bestimmten Fällen - von systematischem Interesse sein, soll aber bei der hier behandelten Schrift außer Acht gelassen werden. II. KIERKEgAArd - der systemfeindliche Systematiker So sehr sich Kierkegaard selbst auch gegen eine Systematisierung gewehrt hat - er argumentiert selbst in einzelnen Werken systematisch. Ebenso lassen sich seine unterschiedlichen pseudonymen Werke letztlich "systematisieren", in eine Einheit bringen, sowohl hinsichtlich einer Fortentwicklung seiner Gedanken als auch hinsichtlich dessen, was thematisiert wird. Diesbezüglich schließe ich mich der These von Walter Schulz an, der für eine systematische Interpretation des Werks Kierkegaards plädiert: "Sie [eine nicht systematische Interpretation Kierkegaards; D.W.] vermag nicht, Kierkegaards Werk als Ganzes in den Blick zu bekommen, und das besagt, sie vermag nicht, Kierkegaards von ihm selbst nicht diskutierten Grundsatz als Grundansatz in Zusammenhang mit dem von ihm Abhängenden zu setzen. Eine systematische Auslegung aber muß unternommen werden, wenn anders eine Auseinandersetzung mit Kierkegaards Werk im Ganzen gelingen soll, denn nur durch eine zusammenstellende Interpretation kann die geschichtliche Tragweite Kierkegaards wirklich begriffen werden." 5 So sehr sich Kierkegaard weiterhin absetzt von der als negativ bewerteten "idealistischen" und "abstrakten" Systemphilosophie Hegels - auch er selbst kommt nicht umhin, zu abstrahieren, abstrakt und teilweise sogar "idealistisch" (durchaus im positiven Sinne) zu argumentieren. Der Begriff Angst ist diesbezüglich besonders charakteristisch. Auch wenn Kierkegaard hier vom Konkreten spricht, vom Individuum, vom einzelnen, spricht er davon auf abstrakte Weise - und muß dies auch, will er philosophisch sein. Und Kierkegaard - dies ist der genannte Ort - wird hier als Philosoph gesehen. III. Kierkegaard - der Philosoph der FreiHEIT Auf den ersten Blick erscheint es merkwürdig, im Zusammenhang mit Der Begriff Angst von Kierkegaard als einem Philosophen der Freiheit zu sprechen. Der Untertitel, Eine schlichte psychologisch-andeutende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde, verstärkt die Merkwürdigkeit einer solchen Behauptung, scheint es sich doch eher um ein theologisches Problem, nämlich das der Erbsünde zu handeln. Kierkegaard zeigt aber, daß auch der Theologe - in diesem speziellen Falle der Dogmatiker - nicht ohne philosophische Grundlegung eines solchen Begriffs operieren kann. Den Begriff der Sünde oder Erbsünde nimmt Kierkegaard zwar von der Dogmatik auf, fragt jedoch nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser Begriffe - verfährt somit selbst nicht dogmatisch, sondern philosophisch. Seine Abhandlung selbst ordnet Kierkegaard, wie der Untertitel ebenfalls besagt, der Psychologie zu: "Was die Psychologie beschäftigen kann und womit sie sich beschäftigen kann, ist, w i e die Sünde entstehen kann und nicht, d a ß sie entsteht." (BA19). Die Psychologie, so wie Kierkegaard sie versteht, fragt nach der "Möglichkeit der Sünde" (BA20), nach deren "Voraussetzung" (BA19) - und damit letztlich nach der universellen Verfaßtheit des Menschen, aus der heraus er sündig oder schuldig werden kann und wird.6 Man könnte seine Frage auch so formulieren: Was oder wie ist der Mensch, daß er schuldig werden kann? Unter welchen Voraussetzungen ist es möglich und legitim, von Schuld (oder Sünde) zu sprechen. Insofern scheint zumindest der moderne Begriff der Psychologie (so vielschichtig er auch sein mag) für Kierkegaards Unterfangen zu kurz zu greifen bzw. unzutreffend, obwohl das Phänomen Angst in der Psychologie ein wichtiger Forschungsgegenstand ist. Die Angst, die Kierkegaard beschreibt (davon wird noch zu handeln sein), ist "die Angst der Freiheit vor sich selbst (...), und dennoch ist sie kein psychologisches Problem. Sie ist eine existentielle Struktur der menschlichen-Realität"7 [Hervorhebung D.W.] - so interpretiert Jean-Paul Sartre den von Kierkegaard thematisierten Begriff. Insofern erscheinen, wenn Der Begriff Angst wissenschaftlich eingeordnet werden soll, Bezeichnungen wie philosophische Anthropologie oder Existenzphilosophie eher angemessen, obwohl Kierkegaard selbst sie nicht verwendet. Um sich dem Begriff Gott, wie er sich in Der Begriff Angst findet, zu nähern, ist es zunächst notwendig, eine erläuternde Darstellung des Kontextes zu geben, in welchem er verwendet wird. Dazu müssen die Begriffe Erbsünde, Sünde, Angst und Freiheit thematisiert werden, um schließlich eine besondere Form der Angst zu betrachten: die Angst vor dem Guten, die Kierkegaard auch das "Dämonische" (BA122) nennt. Erst im Kontext dieser Begrifflichkeiten wird die eigentliche Bedeutung des gesuchten Begriffs offenbar. Das theologisch-dogmatische Problem, von dem Kierkegaard ausgeht, ist das Problem der Sünde in ihrer Beziehung zur Erbsünde. Vor allem das Verständnis der Erbsünde ist es, welches grundsätzliche philosophische Fragen evoziert. Man könnte eine dieser Fragen lapidar so formulieren: Ist Sünde vererbbar? Diese Frage führt, will man sie beantworten, schon bald zur Aufhebung des Begriffs der Sünde. Wird die Sündhaftigkeit tatsächlich als vererbbar aufgefaßt, folgt zwangsläufig daraus, daß jeder Mensch qua Mensch bereits sündig ist, unabhängig davon, was er getan oder nicht getan haben mag. Die Sünde übertrüge sich dann gleichsam mechanisch auf die einzelnen Individuen und ließe diesen keine Möglichkeit, nicht schuldig/sündig zu sein. Ist dies jedoch der Fall, kann dem so von der Sünde 'befallenen' Individuum selbst keine Verantwortlichkeit für seine Sündhaftigkeit zugesprochen werden, so wie niemandem der Vorwurf gemacht werden kann, daß er mit zwei Beinen zur Welt kam. Die Sündhaftigkeit des jeweiligen Individuums liegt bei einem solchen Verständnis von Erbsünde außerhalb der je eigenen Verantwortlichkeit. Damit aber ist zugleich der Begriff der Sünde aufgehoben: Der Begriff der Sünde bzw. der Schuld setzt gerade eine solche Verantwortlichkeit voraus. Verantwortlichkeit kann jedoch wiederum nur dann zugeprochen werden, wenn demjenigen, der sich schuldig gemacht hat, Freiheit unterstellt wird. Und eben dies ist bei einem Verständnis von Erbsünde, wie es oben dargestellt wurde, nicht der Fall. Wenn der Mensch durch Erbsünde bereits qua Mensch schuldig ist, handelt es sich nicht etwa um eine freie Entscheidung, eine freie Handlung, die zu einem Verhalten führt, das moralisch bewertet werden könnte, sondern um eine Art "angeborene" Schuldhaftigkeit - für die letztlich jedoch niemand zur Verantwortung gezogen werden kann - jeder Schuldspruch wird somit obsolet. Kierkegaard hält dennoch sowohl am Begriff der Sünde/Schuld als auch an dem der Erbsünde fest und bemüht sich um eine mögliche Synthese dieser, sich offensichtlich ausschließenden Begriffe. Es wird jedoch bei der Lektüre von Der Begriff Angst schnell klar, daß er ein anderes Verständnis von Erbsünde voraussetzt: Das Wesentliche an der menschlichen Existenz ist, so Kierkegaard, daß "der Mensch Individuum ist und als solches zu gleicher Zeit er selbst und das ganze Geschlecht, dergestalt, daß das ganze Geschlecht am Individuum teilhat, und das Individuum am ganzen Geschlecht" (BA25). Mittelst dieser Wechselbeziehung, die hier behauptet wird, ist es Kierkegaard möglich, beide Begriffe bestehen zu lassen, ohne daß der eine den anderen aufzuheben vermag. Parallel zu Sünde und Erbsünde führt Kierkegaard die Differenz von Individuum und Geschlecht ein, anders ausgedrückt, Individuum und Allgemeinheit. Vom Individuum kann nur die Rede sein, wenn zugleich Nicht-Individuum, also Geschlecht mit hinzugedacht wird, vom Geschlecht oder der Allgemeinheit kann nur gesprochen werden, wenn zugleich das Individuum impliziert ist. Beide Begriffe bedingen sich wechselseitig. Die Erbsünde bezeichnet nun nicht etwa das Schuldigwerden des Individuums, sondern lediglich die Tatsache, daß jedes Individuum in eine bereits "schuldig gewordene" Welt geboren wird, präziser formuliert, in eine Geschichte, innerhalb derer Menschen Schuld auf sich geladen haben. Als Individuum hat es zwar Anteil daran, kann jedoch nicht dafür verantwortlich gemacht werden. Schuldig/sündig werden kann jedes Individuum nur kraft seiner Freiheit.8 Kierkegaard verwendet zur Kennzeichnung dieser voneinander zu unterscheidenden Sphären die Attribute "qualitativ" und "quantitativ". Der Begriff der Erbsünde ist lediglich eine "quantitative Bestimmung" (BA31, u.ö.), insofern er auf die 'Menge' der bisher in der Geschichte vorgekommenen Schuld verweist. Der Begriff der Sünde dagegen ist eine "qualitative" Bestimmung, die auf die Freiheit jedes Individuums deutet (davon wird noch zu handeln sein). Die Ableitung des einen aus dem anderen ist schlechthin nicht möglich: "Es ist reinweg eine logische und ethische Ketzerei, daß man den Anschein wecken möchte, als ob die Sündigkeit in einem Menschen sich quantitativ so lange bestimme, bis sie zuletzt durch eine geschlechtslose Zeugung (generatio aequivoca) die erste Sünde in einem Menschen hervorbringe. (...) Laß die Mathematiker und Astronomen, falls sie es können, sich mit unendlich verschwindenden Minimalgrößen helfen, im Leben hilft das einem nicht dazu, ein Zeugnis zu erhalten, geschweige denn den Geist zu erklären." (BA28). Aus der Sündhaftigkeit innerhalb der Geschichte, der Erbsünde, läßt sich das Schuldigwerden des Individuums nicht ableiten, aus einer quantitativen Anhäufung nicht erklären, wie es zu einer neuen Qualität kommt.9 Die Sünde als solche bedarf einer anderen Zugangsweise. "Die neue Qualität [die Sünde, D.W.] kommt zum Vorschein mit dem Ersten, mit dem Sprung, mit der Plötzlichkeit des Rätselhaften." (BA28). An diesen wenigen Worten ist bereits die Konzeption Kierkegaards erkennbar. Es wurde schon darauf verwiesen, daß von Schuld/Sünde nur dann vernünftig gesprochen werden kann, wenn dem jeweiligen Individuum Freiheit unterstellt wird. Eben dies ist es, was sich in diesen Sätzen zeigt. Der Begriff des Sprungs kennzeichnet eine im Zusammenhang mit Kierkegaards Konzeption der Freiheit wesentliche Kategorie, zeigt er sich doch als das Gegenteil einer von ihm zur Erklärung der Sünde abgelehnten möglichen Ableitung. Die Tatsache, daß jemand schuldig/sündig wird, läßt sich schlechthin aus nichts ableiten oder erklären, da sie aus Freiheit geschieht. Diese Freiheit als nicht ableitbares 'Phänomen' nennt Kierkegaard daher metaphorisch die "Plötzlichkeit des Rätselhaften" - Sartre wird es die "Absurdität" der Freiheit nennen.10 Ließe sie sich ableiten, das heißt, in ein notwendiges Ursache-Wirkungs-Gefüge einordnen, höbe sie sich als Sünde gerade auf. Was Kierkegaard nun intendiert, ist insofern nicht eine Erklärung dessen, wie Schuld/Sünde "in die Welt" kam, da erklären nichts anderes hieße als ableiten: "Wie die Sünde in die Welt gekommen ist, das versteht ein jeder Mensch einzig und allein aus sich selbst; (...) Die einzige Wissenschaft, die ein bißchen tun kann, ist die Psychologie, und diese gesteht selber zu, daß sie mehr nicht erklärt, und nicht erklären k a n n und nicht erklären w i l l. Könnte irgend eine Wissenschaft es erklären [im Sinne von: ableiten, D.W.], so ist alles verwirrt." (BA49). Kierkegaard geht es letztlich nur um eine Beschreibung oder eine Analyse des Zustandes, der der Sünde vorausgedacht werden muß. Es geht ihm um die Verfaßtheit des Menschen, ehe er die erste Sünde vollzog, bzw. wie er sich, nachdem die erste Sünde vollzogen wurde, weiterhin verhält. Freiheit und Angst vor dem SELBST Die Konzeption des "Sprungs", durch die das Individuum schuldig wird, ist untrennbar verknüpft mit der Frage nach der Konstitution von Selbstbewußtsein. Kierkegaard geht aus von der vorgefundenen Tatsache, daß Schuld und Selbstbewußtsein vorhanden sind. Da beides jedoch nur kraft Freiheit entstehen kann, muß er einen Zustand voraussetzen, in dem weder Schuld noch Selbstbewußtsein vorhanden war. Diesen Zustand bezeichnet Kierkegaard mit dem Begriff des träumenden Geistes: "Der Geist ist träumend im Menschen." (BA39). In diesem Zustand ist der Mensch bereits als Synthese von Leib, Seele und Geist angelegt, "weiß" jedoch nichts von dieser Synthese als Synthese, denn um davon zu wissen, muß der Geist sie zunächst als Synthesis setzen und "unterscheidend durchdringen" (BA47). Der Geist ist träumend, daß heißt, er weiß nicht um sich selbst - ist somit noch kein Selbstbewußtsein - und insofern im Zustand der Unschuld und Unwissenheit.11 Begriffe wie Gut und Böse, die erst mit der Setzung des Selbstbewußtseins erscheinen, sind ihm fremd. Mittelst des Dualismus von Möglichkeit und Wirklichkeit lassen sich beide Zustände, sowohl derjenige des träumenden Geistes als auch derjenige des gesetzten Selbstbewußtseins, deutlicher machen. Dem träumenden Geist spricht Kierkegaard die Kategorie der Möglichkeit zu. Das einzige, welches in diesem Zustand vorhanden ist, ist die "Möglichkeit zu können": "Was an der Unschuld vorübergestreift ist als das Nichts der Angst, das ist nun in ihn selbst hineingetreten, und ist hier wiederum ein Nichts, die ängstigende Möglichkeit zu k ö n n e n." (BA43). Der träumende Geist als bloße Möglichkeit hat sich in diesem Zustand selbst noch nicht ergriffen, sich selbst noch nicht als Selbstbewußtsein gesetzt, sich noch nicht als Freiheit ver-wirklicht. Diese Wirklichkeit schwebt dem träumenden Geist jedoch als eine "höhere Form von Unwissenheit" (BA43) vor, "zeigt sich fort und fort als eine Gestalt, die seine Möglichkeit lockt, ist jedoch entschwebt, sobald diese [die Möglichkeit, D.W.] danach greift und ist ein Nichts, das nichts als ängstigen kann"12. Angst, so Kierkegaard, "ist die Wirklichkeit der Freiheit als Möglichkeit für die Möglichkeit" (BA40). Im Zustand des träumenden Geistes als bloße Möglichkeit ist die Wirklichkeit der Freiheit eine Möglichkeit, die ergriffen werden kann oder nicht. Die Möglichkeit der Ver-Wirklichung der Freiheit ist es also, die den träumenden Geist - als bisher bloße Möglichkeit - ängstigt. Diese Freiheit ist noch nicht wirklich, d.h. ein Nichts, und eben dieses Nichts ist es, das Angst gebiert. Anders formuliert: Die Angst, die Kierkegaard beschreibt, ist die Angst vor dem Selbst des Bewußtseins, vor der eigenen Unendlichkeit. Der Sprung, das nicht ableitbare Ergreifen dieser Freiheit, die "unendlich [ist] und [aus nichts] entspringt" (BA116), ist ihre Verwirklichung, gleichzusetzen mit der Setzung des Selbstbewußtseins und gleichzusetzen mit der ersten Sünde: "Solchermaßen ist die Angst der Schwindel der Freiheit, der aufsteigt, wenn der Geist die Synthesis setzen will, und die Freiheit nun niederschaut in ihre eigenen Möglichkeit, und sodann die Endlichkeit packt sich daran zu halten. In diesem Schwindel sinkt die Freiheit zusammen. Weiter vermag die Psychologie nicht zu kommen und will es auch nicht. Den gleichen Augenblick ist alles verändert, und indem die Freiheit sich wieder aufrichtet, sieht sie, daß sie schuldig ist. Zwischen diesen beiden Augenblicken liegt der Sprung, den keine Wissenschaft erklärt hat oder erklären kann." (BA61). Diese Konzeption - so hellsichtig und philosophisch konsequent sie auch ist - wirft Probleme auf, denen an dieser Stelle jedoch nicht nachgegangen werden kann. Einige Fragen sollen daher nur gestellt, nicht beantwortet werden. Ein solches Problem ist dasjenige, welches Kierkegaard in ähnliche Schwierigkeiten bringt, wie sie im Zusammenhang mit der Erbsünde bereits thematisiert wurden. Sobald Selbstbewußtsein gesetzt wird, ist der Mensch bereits schuldig geworden: Die Tatsache, daß er sich - aus Freiheit - als Selbstbewußtsein wählt, bedeutet, daß er sich schuldig gemacht hat, daß er sündig wurde. Inwieweit hat bspw. der Mensch nach Kierkegaards Konzeption überhaupt die Möglichkeit, ein solches Schuldigwerden zu umgehen. Hat er diese Möglichkeit nicht, dann wird er qua Geistsetzung notwendig schuldig - und eine solche Notwendigkeit löst, wie bereits dargestellt, den Begriff der Schuld auf. Und: Inwiefern wird er - in dem er sich als Selbstbewußtsein setzt und seine Freiheit verwirklicht - überhaupt schuldig?13 Die Angst vor dem GUTen Nachdem Kierkegaard in §5 des ersten Kapitels seiner Abhandlung den Begriff der existentiellen Angst dargelegt hat, geht er nun dazu über, die Angst des späteren Individuums zu beschreiben, des Individuums, das bereits in eine Geschichte hineingeboren wird. Jedes Individuum vollzieht zwar als Individuum seine erste Sünde, den Sprung, jedes Individuum muß sich aus Freiheit als Selbstbewußtsein konstituiert haben, zugleich jedoch wird es mit einer Geschichte konfrontiert, in der sich die Schuldhaftigkeit bereits 'etabliert' hat: "Indem nun das Geschlecht nicht mit einem jeden Individuum von vorne beginnt, bekommt die Sündigkeit des Geschlechts freilich eine Geschichte. Diese schreitet indes in quantitativen Bestimmungen fort, während das Individuum mit dem Sprung der Qualität daran teilnimmt. Das Geschlecht beginnt daher nicht mit einem jeden Individuum von vorne; denn dann ist das Geschlecht überhaupt nicht da; aber ein jedes Individuum beginnt von vorne mit dem Geschlecht." (BA31). Die Angst des Individuums kann dann unterschiedliche Formen annehmen. Eine dieser Formen, und diese ist für die vorliegende Untersuchung von besonderem Interesse, ist die Angst vor dem Guten: das Dämonische. Hier stellt sich somit die Frage: was ist das Gute? "Jeder Mensch ist religiös angelegt." (BA107) Der Begriff religiös wird gemeinhin als fromm oder gottesfürchtig verstanden. Solche Übersetzungen helfen jedoch hier nicht weiter. Kierkegaard weist ein wesentlich tieferes Verständnis dieses Begriffes auf: "(...) das Religiöse [ist] das Absolute" (BA108). Was ist damit gemeint? Eben an dieser Stelle bringt Kierkegaard eine diesbezüglich sehr erhellende Anmerkung: "Als Epimetheus die Menschen mit allerlei Gaben ausgestattet hatte, fragte er Zeus, ob er nun die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu wählen, austeilen solle ganz so wie er die andern Gaben ausgeteilt habe, nämlich so, daß der eine sie erhielte, gleichwie ein andrer die Gabe der Wohlredenheit empfangen, ein andrer die der Poesie, ein dritter die der Kunstfertigkeit. Doch Zeus erwiderte, diese Fähigkeit solle an alle gleich ausgeteilt werden, weil sie einem jeden Menschen gleich wesentlich gehöre." (BA108, Anm.). Soviel scheint damit immerhin gesagt: Die Fähigkeit, zwischen gut und böse zu unterscheiden, ist jedem Menschen wesentlich und hängt in irgendeiner Form mit dem Absoluten zusammen. Dem gilt es nachzugehen. Es wurde bereits angedeutet, daß dem träumenden Geist die Unterscheidung zwischen gut und böse fremd ist. Die Freiheit des träumenden Geistes besteht nicht darin, "daß man das Gute oder das Böse wählen kann" (BA47), "denn der Unterschied zwischen Gut und Böse ist nicht, da dieser Unterschied allein vermöge der Wirklichkeit der Freiheit ist" (BA52; Hervorhebung D.W.). Anders ausgedrückt: solange Freiheit sich nicht ver-wirklicht hat, solange der Geist sich nicht als Selbstbewußtsein, als Synthese von Geist, Leib und Seele gesetzt hat, solange gibt es die Kategorien gut und böse nicht. Erst mit der Verwirklichung der Freiheit, mit der Wahl seiner selbst als Individuum, als Selbstbewußtsein, erscheint dieser Unterschied. Nun heißt es weiter: "Das Problem: 'was ist das Gute', ist ein Problem, das unsrer Zeit immer näher rückt (...). Das Gute läßt sich schlechterdings nicht definieren. Das Gute ist die Freiheit. Erst für die Freiheit oder in der Freiheit ist der Unterschied zwischen Gut und Böse und dieser Unterschied ist nie im Abstrakten sondern nur im Konkreten. (...) Wenn man der Freiheit einen Augenblick gewähren will um zwischen Gut und Böse zu wählen, ohne daß sie in einem von beiden ist, so ist die Freiheit eben in diesem Augenblick nicht Freiheit sondern eine sinnlose Reflexion (...). Wofern die Freiheit im Guten bleibt, weiß sie schechthin nichts vom Bösen. In diesem Sinne kann man von Gott sagen (will es jemand mißverstehen, so ist es nicht meine Schuld), daß er vom Bösen nichts wisse." (BA114f., Anm.). Offensichtlich - und dies ist entscheidend - verwendet Kierkegaard den Begriff gut bzw. das Gute auf zwei unterschiedlichen Ebenen. Auf der einen Seite ist es dem Individuum möglich (und wesentlich), zwischen gut und böse wählen zu können. Auf der anderen Seite jedoch bedarf es eines Prinzips, das es ermöglicht, diesen Unterschied überhaupt zu konstituieren. Und dieses Prinzip ist die Freiheit: das Gute.14 Daher wird auch klar, warum Kierkegaard im Zusammenhang mit seiner Behauptung, das Religiöse sei das Absolute, die Geschichte von Zeus hinzufügt. Das Gute - als das die Unterscheidung von gut und böse erst ermöglichende Prinzip - ist jedem Individuum wesentlich; für jedes Individuum ist das Religiöse das Absolute, in dem Sinne, als jedes Individuum zurückgebunden ist an dieses Absolute, die Freiheit, oder eben, das Gute. Die Freiheit, so wurde oben bereits erläutert, läßt sich nicht erklären, aus nichts ableiten, nicht rechtfertigen, daher erscheint sie als das "Rätselhafte" oder, mit Sartre gesprochen, Absurde. Diese Tatsache besagt letztlich nichts anderes, als daß Freiheit "unbedingt" ist. Un-bedingt - von nichts anderem bedingt, auf nichts zurückführbar. Ganz in diesem Sinne heißt es denn auch in Der Begriff Angst: "Hat nicht ein jeglicher Mensch wesentlich Teil am Unbedingten, so ist alles aus. Im Bereich des Religiösen [d.h. des Absoluten] soll man darum nicht von Genie als einer besonderen Begabung sprechen, die nur Einzelnen gegeben sei". (BA118). Jeder Mensch hat qua Mensch Anteil an diesem Absoluten, oder besser: ist zugleich selbst dieses Absolute, oder wieder anders: vollzieht Freiheit, und ist zugleich endliches Individuum. Nach dem bisher Gesagten lassen sich in Kierkegaards Text somit Freiheit, das Absolute, das Unbedingte, das Unendliche und das Gute als synonyme Begriffe lesen. Dies scheint vordergründig inkonsequent: wieso verwendet er unterschiedliche Begriffe, wenn sie ein und dasselbe bedeuten sollen? Diese Frage ist durchaus berechtigt, läßt sich aber leicht beantworten. Die unterschiedlichen Worte deuten zwar alle auf denselben Vollzug (um den Begriff Freiheit zu vermeiden15), zeugen jedoch von jeweils unterschiedliche Perspektiven, von denen aus Freiheit bestimmt wird. Freiheit als das Absolute bzw. Un-bedingte deutet auf den erkenntnistheoretischen Blick (Freiheit kann nicht deduziert werden), Freiheit als das Unendliche und Gute auf den ethischen Aspekt, auf Freiheit als höchsten, ewigen Wert. Für das Absolute selbst (wenn es denn für einen Augenblick - illegitimerweise - gestattet sein soll, sich in dasselbe zu versetzen), als identischer Vollzug, gibt es weder gut noch böse, noch "weiß" es von seiner Unableitbarkeit oder Unbedingtheit. In diesem Sinne ist auch oben bereits zitierte Anmerkung Kierkegaards zu verstehen: "Wofern die Freiheit im Guten bleibt, weiß sie schlechthin nichts vom Bösen. In diesem Sinne kann man von Gott sagen (will es jemand mißverstehen, so ist es nicht meine Schuld), daß er vom Bösen nichts wisse." (BA114f., Anm.; Hervorhebung D.W.). Die unendliche Freiheit als das Absolute, das Gute, als rein (mit sich) identischer Vollzug, der jede konkrete Unterscheidung von und Entscheidung für gut und böse überhaupt erst ermöglicht, weiß "schlechthin nichts vom Bösen", da ein solches Wissen - als Wissen - Selbstbewußtsein, und damit Differenz erforderte. Freiheit als das Gute, als oberstes "Prinzip", weiß nichts vom Bösen, weil sie keine Unterscheidung von gut und böse kennt, da diese erst mit Verwirklichung der Freiheit konstituiert wird, ebenso wie auch das Selbstbewußtsein erst mit Verwirklichung der Freiheit gesetzt ist. Erst mit der Setzung von Selbstbewußtsein wird Differenz (als Subjekt-Objekt-Spaltung) und damit Wissen von etwas konstituiert. Ebenso - um nun endlich zum eigentlichen Thema zu kommen - "weiß" Gott nichts vom Bösen, da, wie die Freiheit, Gott als Absolutes, Identisches und somit Nicht-wissen-könnendes verstanden werden muß. Die zitierte Stelle läßt auf den ersten Blick darauf schließen, daß Kierkegaard unter Freiheit und Gott etwas voneinander zu Unterscheidendes versteht. Eben dies aber war Ausgangspunkt für diese Untersuchung, nämlich zu zeigen, daß der Begriff Gott, wie er in Der Begriff Angst verwendet wird, nichts anderes, nicht mehr und nicht weniger bedeutet als das, was Kierkegaard mit Freiheit, das Absolute, das Gute bezeichnet, und daß Gott nicht auf etwas außerhalb des Individuum Stehendes verweist, etwa einen persönlichen (oder unpersönlichen), unabhängig von mir existierenden Gott: Gott und Freiheit haben in dieser Schrift identische Bedeutung. Gott heißt nichts anderes als das Absolute, welches jedes Individuum als Freiheit ist, welches jedes Individuum als Individuum selbst vollzieht. Um es provokant zu sagen: jedes Individuum ist als Freiheit selbst Gott. Nur vor diesem Hintergrund, mit der Identifikation der Begriffe Gott und Freiheit, wird m.E. dasjenige, was Kierkegaard im Zusammenhang mit der Angst vor dem Guten - dem "Dämonischen" - schreibt, verständlich. Das Dämonische, so Kierkegaard, ist "Angst vor dem Guten" (BA122), das Gute ist die Freiheit (vgl. oben, BA114) - somit ist die Angst vor dem Guten Angst vor der Freiheit. Anders ausgedrückt: Angst vor sich selbst. Im Zusammenhang der Beschreibung des Dämonischen als des Verschlossenen (Angst vor der kommunizierenden Freiheit), Plötzlichen (Angst vor der Kontinuierlichkeit, man könnte auch sagen, Unendlichkeit oder Ewigkeit der Freiheit) und Inhaltsleeren und Langweiligen (Angst vor der sich selbst als Inhalt ergreifenden, tätigen Freiheit), erscheint folgende Passage: "Man erinnere sich stets, daß man nach meinem Sprachgebrauch nicht verschlossen sein kann in Gott, oder im Guten (...)." (BA138). Auch hier ist kein Unterscheidungskriterium für Gott oder das Gute angegeben. Deutlicher noch wird die hier behauptete Identifizierung der Begriffe Gott und Freiheit in der Untersuchung Kierkegaards über den "pneumatischen"16 Verlust der Freiheit (2. Kapitel, §2, Teil II). "Der Freiheit Inhalt, intellektuell gesehen, ist Wahrheit, und die Wahrheit macht den Menschen frei. Eben darum aber ist die Wahrheit ein Werk der Freiheit dergestalt, daß sie fort und fort die Wahrheit erzeugt. (...) Wovon ich (...) rede, ist etwas ganz Schlichtes und Einfältiges, daß die Wahrheit nur für den Einzelnen ist, sofern er sie selbst handelnd erzeugt."17 Der pneumatische Verlust der Freiheit (als eine Form der Angst vor dem Guten) tritt just dann ein, wenn das Individuum den Bezug zu dieser Wahrheit, zur eigenen - absoluten - Freiheit, verliert. Ein solches Verhältnis aber muß erreicht bzw. wiedererlangt werden: "Verweigert ein Mensch diesen in seiner Freiheit gründenden, innerlichen Bezug zu seiner Wahrheit, schließt er sich in sich ab und stellt die Wahrheit sich als ihm Fremdes gegenüber, ist er dämonisch. Ein Verhältnis zur Wahrheit als Gewißheit, die immer an Innerlichkeit gebunden ist, wird er nie erreichen."18 Auch in diesem Zusammenhang bringt Kierkegaard wiederum Gott ins Spiel: "Die Führung eines Beweises für Gottes Dasein ist etwas, damit man sich nur gelegentlich, gelehrt und metaphysisch beschäftigt, aber der Gedanke an Gott will sich aufdrängen bei jeglicher Gelegenheit. Was ist es, das solch einer [naseweisen; D.W.] Individualität fehlt? Die Innerlichkeit." (BA146) Auch diese Passage kann als lediglich analoges Beispiel gelesen werden, denn Innerlichkeit wurde von Kierkegaard zuvor als eben jener innere Bezug zur eigenen Freiheit (Wahrheit) bestimmt. Nach meiner Interpretation ließe sich diese Stelle somit folgendermaßen übersetzen: Die "Existenz" der Freiheit beweisen zu wollen, kann nur einer "naseweisen Individualität" einfallen, denn beweisen - im Sinne von ableiten, deduzieren (vgl. oben) läßt sie sich nicht. Wenn diese Individualität tatsächlich einen Beweis antreten will, kann dies nur dadurch erklärt werden, daß sie sich die Freiheit als etwas ihr Fremdes gegenüberstellt und "vergißt", daß sie selbst es ist, die diese Freiheit vollzieht. Nur wer sich mit Ernst (vgl. BA152) als Freiheit be- und ergreift, mit Ernst versucht, sich selbst durchsichtig zu werden, erkennt sich selbst, erkennt sich selbst als absolute Freiheit und damit als Unendlichkeit. "Die Innerlichkeit ist daher die Ewigkeit oder des Ewigen Bestimmung in einem Menschen." (BA157) Demjenigen, der sich nicht mit dem Gedanken anfreunden mag, daß der Begriff Gott mit dem "Begriff" der Freiheit zu identifizieren ist, bleibt eine Möglichkeit: Herauszufinden, daß in Der Begriff Angst Gott inhaltlich mehr bedeutet als das, was Kierkegaard unter Freiheit versteht. Eine solche Bedeutungsdifferenz - und eben dies ist die vertretene These -, ist jedoch nicht aufzufinden, und insofern ist es unsinnig, Kierkegaard - zumindest bezüglich des hier untersuchten Textes - weiterhin (traditionell) theologisch zu lesen und unter Gott etwas anderes als Freiheit verstehen zu wollen. Entsprechend diesem Verständnis von Gott als identisch mit Freiheit (als Absolutes, Gutes, Wahrheit und Unendlichkeit) wird auch der Begriff Glauben seiner im Alltagsverständnis meist kirchlich-religiösen Konnotationen beraubt: "Unter Glauben verstehe ich hier das, als das Hegel ihn einmal auf seine Weise überaus richtig gekennzeichnet, die innere Gewißheit, welche die Unendlichkeit vorwegnimmt." (BA163). Glaube ist somit nichts anderes als die oben bereits erläuterte, innere Gewißheit: der ernsthafte Bezug zur eigenen Freiheit. Freiheit kann niemandem mitgeteilt, vermittelt oder bewiesen werden, jeder muß seine eigene Freiheit selbst vollziehen, jeder muß sich ihrer selbst unmittelbar gewiß sein. Eine solche Gewißheit ist kein reflexives Nach-vollziehen oder "Verstehen" der Freiheit, sondern eine Evidenz, ein "Gefühl", oder eben, wie Kierkegaard es nennt, "Glaube". 19 AnmerKunGEN 1
Sören Kierkegaard (Vigilius Haufniensis): Der Begriff Angst. Eine
schlichte psychologisch-andeutende Überlegung in Richtung auf das
dogmatische Problem der Erbsünde. Kopenhagen, 1844. In: Gesammelte
Werke. Hrsg.v. E. Hirsch und H. Gerdes. Abt. 11/12.München 31991.
S.6. Im folgenden zitiert als BA und Seitenangabe. (back)
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