G.W.F. Hegel: 
    Motiv und Programm einer spekulativen Philosophie

    von Martin Götze 

     
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    (c) Sic et Non - Forum for Philosophy and Culture - http://www.cogito.de/sicetnon/artikel/historie/hegel.htm (1991)
    Das Selbstverständnis heutiger Philosophie beruht auf der Übereinkunft, daß eine ordnende Durchdringung der Gesamtwirklichkeit unm”glich geworden sei. Indem sie weitgehend auf den "großen Entwurf" verzichtet und ihr Anliegen darauf reduziert, mehr oder minder den empirischen Wissenschaften nebengeordnet und weniger Philosophie, oder aber bloße Kommentatorin aller möglichen Zeiterscheinungen im Sinne eines besseren Feuilletonismus sein zu wollen, scheint sie damit weit entfernt von dem Anspruch eines Denkens, das neben anderen Superlativen auch eine "Darstellung Gottes (...), wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist"1, zu seinem Inhalt gemacht hat. Gleichwohl ist die als einer der Hoch- und Wendepunkte abendländischer Philosophie anerkannte Gedankenarbeit Georg Wilhelm Friedrich Hegels unserer Spätmoderne, ja selbst noch der Postmoderne immer gegenwärtig, und in ihrer eigentümlichen, heute so anachronistisch anmutenden systematischen Gestalt bildet sie seit 160 Jahren für Bewunderer und Gegner gleichermaßen einen Gegenstand stetiger Auseinandersetzung. Unter den Zeitgenossen überwiegt freilich die Zahl derjenigen, die im System Hegels lediglich ein negatives Exempel erkennen. Während es den einen als Paradigma eines denkerischen Absolutismus gilt, dessen Streben nach Versöhnung der Gegensätze angesichts einer Vielfalt von Wirklichkeiten für unangemessen und überholt erachtet wird2, trumpfen hingegen die Spielarten des modernen Empirismus mit dem Urteil auf, Hegel sei bloß spekulativ, er überfliege die Realität und baue Luftschlösser die allenfalls rationalistisch eingekleidet seien. Ohne Zweifel mißt die Gegenwart dem Wort "Spekulation" nur eine pejorative Bedeutung zu. Das aber seine Philosophie spekulativ sei und eben dies ihre besondere Methode ausmache, wird von Hegel selbst mehrfach betont. Damit ist angezeigt, daß dort jener Vokabel eine völlig andere, der heute geläufigen entgegengesetzte Wertung zukommt, und dem spekulativen Moment in der Konzeption eines "absoluten" Idealismus wesentliche Bedeutung beigemessen wird. Der Versuch, mittels einer Erläuterung dieses Momentes dem Charakter des Hegelschen Denkansatzes näherzukommen, muß zunächst auf dessen Motive zurückverwiesen werden.  

    Die monolithische Erscheinung, die er seiner Philosophie gegeben hat, und ihr herrisches Pathos täuschen leicht darüber hinweg, daß die ersten Anstöße, die Hegel auf den Weg zum System führen sollten, durchaus konkret politischer und religiöser Natur waren. Die Jahre seines Studiums der protestantischen Theologie, die er mit den nachmals ebenfalls berühmten Kameraden Hölderlin und Schelling teilte, fielen in eine Epoche sozialer und geistiger Umwälzungen. Entscheidend für die Entwicklung der Drei war neben dem Erlebnis der französischen Revolution die Begegnung mit der Philosophie Immanuel Kants, deren Restriktion der überkommenen Metaphysik größte Wirkung auf die dogmatisch erstarrte Gottesgelehrsamkeit der Zeit ausüben mußte. Kant hatte sich vor allem die Deduktion einer rationalen Ethik, die dem sittlichen Bewußtsein ein apriorisches Vernunftprinzip zugrundelegt, zur Aufgabe gemacht; und die Kompromißlosigkeit, mit der die neue Morallehre die Autonomie des Willens und die damit verbundene Notwendigkeit für den Menschen, sich das Sittengesetz aus Vernunft heraus selbst zu geben, betonte, war für die Freunde im Tübinger Stift gleichsam die Verheißung einer neuen geschichtlichen Ära3. Hegel machte sich die Kantische Theorie zu eigen und wandte sie auf eine Problematik an, die im Mittelpunkt seiner ersten Überlegungen stand: die Positivität der christlichen Religion. Positivität, das Gegebene und Normative, war ihm der Gegenbegriff zu Moralität; sie ist gleichbedeutend mit Hierarchie und schulmeisterlicher Tugendlehre, die ihre Sätze nicht aufgrund vernünftiger Einsicht postuliert, um dann durch die freie Zustimmung aller legitimiert zu werden, sondern sie alleine mittels Berufung auf übergeordnete Autorität als faktisch setzt. Die Kirche stellt sich somit als System der Abhängigkeit dar; "sie kündigt uns das moralische Gesetz als etwas außer uns Bestehendes, als etwas Gegebenes an"4, und demütigt den Menschen durch Vorenthaltung sittlicher Selbstbestimmung, macht ihn somit zum bloßen Reproduzenten vorgefertigter Inhalte. Zwar bewegte sich Hegel hier noch ganz in den Bahnen des Kantianismus, den er für seine kritischen Analysen benutzte, doch erhielt in solchen Betrachtungen bereits das Begriffspaar Konturen, dessen wechselseitige immanente Vermittlung aufzuzeigen, die Aufgabe seines Denkens werden sollte: Entgegensetzung und Vereinigung. Diese Grundpositionen von Existenz sah der junge Theologe im politisch-religiösen Bereich in den Formen Positivität und Moralität gegenübergestellt. Die Kunstreligion der Griechen, die in der Mythologie das Endliche mit dem Ewigen aussöhnt, das organische Zusammenleben in der Polis und das ursprüngliche Christentum zeigen die Möglichkeit menschlicher Vereinigung in vernünftiger Sittlichkeit, doch diese muß selbst ins Positive umschlagen, sobald sie an entindividualisierte Autorität zwecks Verwaltung und Normierung weitergeleitet wird. Mit einer entgegengesetzten, als Herrschaft auftretenden Objektivität zur wirklichen Vereinigung zu gelangen, ist aber dem Subjekt unmöglich, so daß es die bloße Vereinnahmung als Negativität erfährt. Diese Form der unvollständigen Vereinigung erzeugt vielmehr ein Gefühl der Trennung, ein Symptom, welches Hegel für alle Bereiche des Lebens konstatierte und zum Charakteristikum der ganzen Epoche erhob. Die Einsicht in eine konkrete "Dialektik der Aufklärung", die der Erarbeitung seiner reifen Methodik voranging, veranlasste ihn zu einer kritischen Modifikation der Kantischen Ethik5. Kant hatte seiner Theorie das Postulat eines "an sich" guten Willens, der Moralität alleine aus seinem Wollen bezieht und dabei von utilitaristischen Erwägungen absieht, zugrundegelegt. Der Wille als höchste praktische Bestimmung der Vernunft verweist auf den Begriff der Pflicht: Sie gründet sich auf die Einsicht in die "Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung für das Gesetz." Die Pflicht soll auch entgegen aller Neigung dem Gesetz Folge leisten, so daß dem unvollkommenen, von subjektiven Triebfedern bestimmten Vernunftwesen Mensch der Imperativ der Sittlichkeit als Nötigung erscheint. Weil ihm aber in der Maxime seines Handelns die Autonomie der sich selbst das Gesetz gebenden Vernunft bewußt wird, erwächst ihm aus der Nötigung ein Gefühl der Achtung. Der Wille wird also objektiv durch das Gesetz, subjektiv durch Achtung für dasselbe bestimmt6. Hegel sah nun hierin die Motivation für sittliches Handeln nicht hinreichend begründet, denn die Gesinnung, die allen ethischen Prämissen vorangehen und eigentlich immer schon enthalten muß, was diese erst begründen sollen, bleibt bei Kant eine abstrakt-intellektuelle. Das wirkliche Subjektiv-werden der Gebote praktischer Vernunft, ihre Erhebung auf den Standpunkt eines existentiellen Interesses erfährt das Individuum in der Negation von Positivität. Doch die bloße Verneinung ist ihm ein Unvollständiges, ein Mangel, den es als Schmerz empfindet. Will die Negation in einen Zustand der Vereinigung münden, muß sie sich zur Affirmation aufheben. Der negativen Gesinnung ist ihr Objekt, das Positive, ein Fremdes und rein Äußeres; fällt der Gegensatz weg, verliert sie auch die Moralität, geht in bloße Legalität über und setzt sich der Gefahr aus, selbst positiv zu werden. Eine solche Haltung, in der Freiheit nicht aus sich heraustreten kann, um im Anderen wirklich zu werden, weil sie das Sittengesetz nur in der abstrakten Beziehung auf sich kennt, machte Hegel in der Kantischen Position aus. Ihr stellte er ein Prinzip entgegen, das die "Erweiterung des Umfanges des Lebendigen" gegenüber erstarrter Positivität zum Ziele hat und auf einem "Grundverhältnis der Gegenseitigkeit" beruht7. Dieses nicht in der Verneinung verharrende, sondern sich im tätigen Austausch mit einem Anderen erhaltende Prinzip sprach Hegel als Liebe an und stellte sich damit in die Traditionslinie der sogenannten Vereinigungsphilosophie, die, vom Platonismus ausgehend, über Shaftesbury und Herder bis ins 18. Jahrhundert hinein sich fortsetzte. Wichtige Anstöße während dieses Überganges erhielt er durch den Jugendfreund Hölderlin, dem er nach einigen Berner Jahren in Frankfurt wiederbegegnet war. Hölderlin verfügte zu jener Zeit über eine eigene, aus Elementen der Vereinigungsphilosophie und einer Modifikation Fichtes gespeiste Konzeption. Kant hatte mit seiner Kritik der Erkenntnisvermögen gezeigt, daß alle Erkenntnis, ja überhaupt Erfahrung bedingt sei durch die Einheit des Selbstbewußtseins als dem Subjekt des Denkens. In Anschluß an ihn versuchte Fichte eine systematische Ableitung alles Wissens aus einem obersten Prinzip, dem Ich, indem er annahm, dieses entfalte sich in der Entgegensetzung zu einem Nicht-Ich. Beide, Ich und Nicht-Ich, finden dabei ihren einigenden Grund in der Unbedingtheit des Selbstbewußtseins, das den Gegensatz umgreift und soweit für "absolut" zu gelten hat. Hölderlin aber hielt dagegen, daß die Rede vom Selbstbewußtsein nur Sinn mache, solange es als Korrelat zu einem Objekt bestehe, da es ja von den Bedeutungen "Ich" und "Subjekt" nicht abzutrennen sei. Dadurch erweise es sich als bedingt und könne nicht für die Einheit über dem Gegensatz genommen werden, sondern beide, Subjektbewußtsein und Objektbewußtsein, hätten ihren Grund in einem Vorausliegenden, welches er mit Spinoza als "Sein in allem Dasein" dachte8. Dieses Sein, durch einen Akt der Reflexion in Entzweiung übergegangen, ist die ursprüngliche Identität, die wiederherzustellen unser höchstes Streben sein muß. Während das sittliche Bewußtsein den Appell an uns richtet, im unendlichen Progreß tätiger Hingabe den Weg zur Einheit zu beschreiten, erleben wir Ideal und Gewißheit der Einheit in der Anschauung der Naturschönheit; in ihr spiegelt sich der verlorene Ursprung, der eins mit der Liebe ist. Hegel machte sich Hölderlinsche Gedanken zu eigen und entwickelte die Vorstellung einer freien Volksreligion, welche die liebende Macht der Vereinigung zum Inhalt hat, indem sie diese ins endliche Bewußtsein und zur Grundlage des sittlichen Lebens erhebt:"Wo Subjekt und Objekt -oder Freiheit und Natur so vereinigt gedacht wird, daß Natur Freiheit ist, daß Subjekt und Objekt nicht zu trennen sind, da ist Göttliches - ein solches Ideal ist das Objekt jeder Religion."9 Eigenes Profil erhielten solche Überlegungen aber erst in der Differenz zum Entwurf des Dichterphilosophen, die sehr bald hervortrat. Während Hölderlin in der Liebe die Möglichkeit zur Zusammenführung heterogener Bestrebungen des Menschen sah, nämlich der von Sehnsucht nach unendlicher Vereinigung mit dem ewigen Sein und der Hingabe an das Endliche außer uns, kam Hegel zu der Einsicht, daß die Beziehung zwischen endlichem Selbst und unendlicher Liebe nicht aus einem Dritten, sondern vielmehr aus den immanenten Bedingungen des Bezogenseins abzuleiten sei. Demnach ist das Absolute nicht ein vorausliegendes, als Ursprung angenommenes "Sein", sondern es ist die Handlung der Vereinigung selbst; es erweist sich, wenn diese im Identischsein der Glieder vollendet ist, als der "entwickelte Begriff der Relation."10 Dieser eigenste Gedanke Hegels, das Absolute als Prozeß aufzufassen, führte ihn dazu, es zunächst als "Leben", später aber als "Geist" zu bestimmen. Denn das Wesen von Subjektivität war ihm der Weg derselben zur Selbstmanifestation, die sich in einem Akt des freien Zusichkommens beschließt. Auch beharrte er in größerem Maße als Hölderlin auf einem Grundproblem der Vereinigungsphilosophie: wie es überhaupt zu Endlichkeit und Entgegensetzung kommen konnte und wie man sich das Bestehen des Endlichen im Unendlichen zu denken habe, ist ja sonst nicht Vereinigung der Fall, sondern vielmehr Vernichtung im Orkus bewußtloser Finsternis. Der Prozeßgedanke legte die Vorstellung nahe, daß für das Werden des Absoluten Entfremdung und Widerspruch, das Heraustreten aus sich notwendige Dynamisierungsmomente seien. Wenn aber die endliche Sphäre Etappe auf dem Weg zur Vollendung und nur das Ganze der Bewegung der Geist ist, so fällt der unüberbrückbare Gegensatz von Endlichkeit und Unendlichkeit hinweg; eine Vernichtung von jener durch diese ist ausgeschlossen. Zugleich konnte dabei in gewisser Weise auf das Ideal der Liebe zurückgegriffen werden: Die freie Beziehung auf Anderes muß so gedacht werden, daß jedes Glied der Relation in der Einheit ebenso bei sich selbst ist. Damit sind aber wesentliche Kategorien der Theorie des Geistes und der dialektischen Logik (Anderssein, Negation, Aufgehobensein, Identität) im Keime angelegt. Die besondere Methode, diese zu verbinden und ihre notwendige Abfolge im Prozeß aufzuweisen, bezeichnete Hegel später als "spekulativ". Die Entwicklung der Bedeutung des Terminus während der Jenaer Zeit markierte den Übergang von der Religionskritik zum System der Philosophie.  

    Eine wichtige Einsicht Hegels war es, daß zu den Bedingungen positiver Religion das Postulat eben jener Trennung der endlichen Existenz vom Absoluten gehöre. Das Göttliche wird vom Dogma nur als abstraktes Jenseits aufgefasst, damit eine lebendige Beziehung zu ihm unmöglich gemacht. Für einen wesentlichen Grund des vereinzelnden Nebeneinanderstellens machte er die reflektierende Tätigkeit des Verstandes aus. Der Verstand, dessen Anspruch auf Erkenntnisfähigkeit ohnehin nur im Bereich der Erfahrung gilt, vermag nur Entgegensetzungen zu produzieren; verläßt er seine Sphäre und sucht sich zu einem Transzendenten zu erheben, verfestigt er auch dort die Einseitigkeit seines Denkens zu einem Gegenüber von Endlichkeit und Unendlichkeit, Natur und Freiheit, Begriff und Sein. Weil der Verstand ebenso die Philosophie beherrscht, hatte Hegel sie im "Systemfragment von 1800" noch dem Ideal einer "schönen" Religion, die das Absolute im Lichte von Symbol und Mythos aufscheinen läßt, untergeordnet. Offenbar wurde er sich bald der Gefahr eines ästhetisch-mystischen Gottesdienstes bewußt, neben und außerhalb der Reflexion, die mit ihren Formen die moderne Kultur beherrscht, zu verharren und dadurch der Kraft universeller Vereinigung verlustig zu gehen. Dieses Dilemma veranlaßte eine entscheidende Neuorientierung. Es galt nun, die Reflexion selbst über die Fixierung des Gegensatzes hinauszuführen, durch eine "Reflexion der Reflexion zur Spekulation, der denkenden Erhebung zum Unendlichen"11 zu gelangen. Die Philosophie sollte nunmehr einer Neubegründung der Religion vorangehen und deren Auffassung des Absoluten als die richtige erweisen. In seiner ersten größeren Druckschrift, vordergründig eine Apologie Schellings gegenüber der Fichteschen Wissenschaftslehre, stellte Hegel sein Programm vor. Darin konstatiert er, seine ureigensten Motive aufgreifend, Entzweiung als den "Quell des Bedürfnisses der Philosophie"12. Die soziale und kulturelle Organisation der Zeit ist vom Absoluten isoliert, ihre Antagonismen in der Entgegensetzung von "absoluter Subjektivität und absoluter Objektivität"13 polarisiert. Um ihrem Bedürfnis nach Vereinigung gerecht zuwerden, gibt sich die Philosophie eine einzige, alle anderen Themata implizierende Aufgabe: "Das Absolute soll fürs Bewußtsein konstruiert werden."14 Die Reflexion als Instrument der Philosophie bringt jedoch Beschränkungen hervor, anstatt sie aufzuheben; sie muß daher in ihrer Bezogenheit auf das Absolute ihre eigenen Beschränkungen vernichten und sich zur Vernunft läutern. Für Hegel ist die Vernunft der eigentliche Ort der Spekulation, die Entgegensetzung als sich aufhebend und damit in ihr wesentlich Identität erkennt. Kant hatte die Vernunft als das Vermögen der Ideen bezeichnet, wobei er mit Ideen Begriffe meinte, denen im Reich der Erfahrung kein Gegenstand kongruent ist (etwa "Gott")15. Weil Kant aber metaphysische Erkenntis leugnet, gesteht er der Vernunft lediglich praktischen Wert in Hinblick auf das Sittengesetz zu. Während er Vernunft und Verstand in ein dualistisches Verhältnis setzt, wobei die Kompetenzüberschreitung einer Seite Antinomien und Scheinprobleme hervorbringt, begreift Hegel den Widerspruch des Verstandes als Durchgangsmoment der Vernunft, in der das endliche Bewußtsein das Absolute reproduziert. Die Entzweiung ist Erscheinungsweise des Absoluten als des Vernünftigen schlechthin; seine Bewegung, durch das Hervortreten aus der Totalität und in der Rückkehr zur ihr sich selbst zu ergreifen, wiederholt sich in der denkenden Erhebung zu ihm: Das Denken überwindet die bewußtlose Unmittelbarkeit, wird verständige Reflexion und läßt den Gegensatz entstehen. Dieser wird aber vernichtet, wenn das Denken das gegenseitige Sich-Aufheben der Beschränkungen erkennt und damit Spekulation geworden ist. Zeigt sich der Verstand als uneinsichtig, so muß für ihn der höchste Ausdruck der Vernunft die Antinomie sein - die Vernunft als absolute Synthese Entgegengesetzter bleibt dem gesunden Menschenverstand unverständlich, er sieht in ihr den bloßen Widerspruch. Die bewußte Einsicht in die Identität antinomischer Sätze aber ist wirkliches Wissen. Den spezifischen Erkenntnismodus, in dem solches Wissen erreicht wird, nennt Hegel in Anschluß an Schelling "intellektuelle Anschauung". In ihr wird, weil sie reine Beziehung des Denkens auf sich selbst ist, es also sich selbst zum Gegenstand hat, die in der empirischen Anschauung gegebene Entgegensetzung von Subjekt und Objekt aufgehoben. Diese Anschauung wird auch als transzendental bezeichnet, sofern die Selbstobjektivation der konstitutive Akt des Ich ist, durch den es als Tätigkeit des Denkens zu sich kommt. Mit dieser Re-flexion ist Entzweiung und Identität zugleich gesetzt, denn das Ich ist hier Subjekt-Objekt. Im empirischen Bewußtsein dagegen erscheinen die Glieder der identischen Beziehung sich in den Formen Idealität und Realität entgegengesetzt; erreicht aber die philosophische Reflexion die intellektuelle Anschauung, so muß sie im Gegensatz die ursprüngliche Identität erkennen. Die Vernichtung der Beschränkung, die in ihrer Beziehung auf das Absolute ebenso Bestehen hat, ist Vereinigung. Vollständig ist sie, wenn das Mannigfaltige der Beschränkungen auch untereinander bezogen wird; "es muß das Bedürfnis entstehen, eine Totalität des Wissens, ein System der Wissenschaft zu produzieren (...) Das Philosophieren, das sich nicht zum System konstruiert, ist eine ständige Flucht vor den Beschränkungen, mehr ein Ringen der Vernunft nach Freiheit, als reines Selbsterkennen derselben, das seiner sicher und über sich klar geworden ist."16  

    Wollte Hegel die Richtigkeit seiner Thesen beweisen, so mußten vor allem zwei Aufgaben gelöst werden: Er hatte eine Methodenlehre vorzulegen, die dezidiert darstellt, wie das vernünftige Denken alle Gegensätze überwindet und sich zum Begriff des Absoluten erhebt - eine spekulative Logik; und er mußte zuvor das Medium absoluter Erkenntnis, in jener ersten Schrift noch ganz unvermittelt unter dem Titel "intellektuelle Anschauung" eingeführt, als den notwendigen Standpunkt des Erkennens, der alleine wahrhafte Einsicht ermöglicht, aufweisen. Um dieses zu leisten, konzipierte Hegel eine Einleitung zur Wissenschaft, die das gewöhnliche Bewußtsein zum "absoluten" Wissen hinführen und dabei selbst schon Wissenschaft sein soll: Die "Phänomenologie des Geistes". Die Vorgabe, eine spezifische Form des Erkennens für den einzig richtigen Maßstab ausgeben zu wollen, impliziert, daß allen anderen in Frage kommenden "Erkenntnistheorien", die Anspruch auf Erstellung der Wissenschaft erheben, ihre Mangelhaftigkeit gezeigt werden muß. Woher aber den Maßstab einer solchen Prüfung nehmen, wenn dieser erst das Ergebnis der ganzen Untersuchung sein soll und nicht dogmatisch gesetzt sein darf, da er sonst nicht mehr Legitimation als ein beliebiger anderer hätte? Nach Hegel wird die Aporie vermieden, indem man das Bewußtsein - denn nur in ihm hat das Wissen einen Ort - sich selbst prüfen läßt. Bewußtsein "unterscheidet nämlich etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht; (...) es ist etwas für dasselbe."17 Die bestimmte Weise, wie etwas für das Bewußtsein ist, wird als Wissen bezeichnet. Weil aber das natürliche Bewußtsein den Gegenstand auch außerhalb der Beziehung, den dieser auf es hat, als eigenständiges "Ansichsein" setzt, steht dem Wissen vom Gegenstand noch dessen Wahrheit gegenüber; "an dem also, was das Bewußtsein innerhalb seiner für das Ansich oder das Wahre erklärt, haben wir den Maßstab, den es selbst aufstellt, sein Wissen daran zu messen."18 Kommt das vergleichende Bewußtsein zu dem Ergebnis, daß das Wissen vom Gegenstand und seine Wahrheit noch nicht übereinstimmen, verläßt es diesen Standpunkt des unvollkommenen Wissens und geht zu einem anderen über. Aber die Erfahrung der Unwahrheit eines Gegenstandes wird nicht an einem anderen ebensolchen gemacht, sondern beruht auf einer "Umkehrung des Bewußtseins"19 selbst; sein Weg zum Wissen ist nicht nur seine Entwicklung am Gegenstand, vielmehr entwickelt es in seiner Bewegung den Gegenstand. Dieser verändert sich mit dem Wissen von ihm; war er dem Bewußtsein zuvor noch das Ansich, ist er auf einer neuen Stufe lediglich etwas, das "für es an sich war"20, das überwunden wird und in eine "wahrere" Gestalt übergeht, indem nun dieses Für-es die neue Wahrheit des Bewußtseins ist. Am Ende des Prozesses, wenn Wissen und Wahrheit zusammenfallen, hat das Bewußtsein das absolute Wissen erreicht, den Punkt, auf dem es "seinen Schein ablegt, mit Fremdartigem, das nur für es als ein anderes ist, behaftet zu sein, oder wo die Erscheinung dem Wesen gleich wird"21. Die Bewegung des Bewußtseins ist nicht nur dessen Aufstieg von der bloßen Sinnlichkeit, in der das Denken sein Objekt lediglich als unbestimmtes "Dieses" begreift, bis hin zum philosophischen Wissen, sondern auch Realisationsmoment im Werden des Absoluten selbst. Der Gedanke Hegels, "das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken"22, führte ihn zu der Einsicht, das Wahre müsse in der Form des Selbstbewußtseins vorgestellt werden. Es ist zunächst abstrakte Ununterschiedenheit, reine Beziehung auf sich, aber als Ich, als die Tätigkeit des Denkens ist es das Negative, d.h. das Unterscheidende, schlechthin Bestimmende, somit das Unterscheiden von sich selbst und darin "Identität in dem Anderssein."23 Will das Bewußtsein seiner als wirklich bewußt werden , das, was es "an sich" ist, auch "für sich" sein, muß es die Differenz als wirkliche setzen, indem es sich von sich entfremdet und sein "Anderssein" in ein konkretes, eigenständiges Dasein entläßt. Dieses ist die natürliche Welt und darin das endliche Bewußtsein das "Erscheinen des Geistes"24, der seine Substanz in den Gegenständen der realen Sphäre außer sich hat, aber sich - wie die Phänomenologie als "Darstellung des erscheinenden Wissens"25 zeigt - dahingehend entwickelt, die Entgegensetzung von Ich und Substanz aufzuheben, und damit im endlichen Subjekt zum "Selbsterkennen im Absoluten Anderssein"26 gelangt.  

    Vom Werden der Wissenschaft, die auch als Sich-wissen des Geistes aufgefaßt werden kann, ist aber ihr Inhalt zu unterscheiden: die spekulative Philosophie oder Logik. Sie entwickelt ihre Definitionen nicht mehr oder minder zufällig am empirischen Stoff, sondern gibt die von der Vorstellung eines äußeren Gegenstandes abstrahierenden, reinen Gedankenbestimmungen wieder. Das Ich als Denkendes ist darin vom Gegensatz des empirischen Bewußtseins befreit und, seiner Subjektivität entäußert, das "tätige Allgemeine"27. Es befindet sich also im Element des reinen Wissens, das als Ergebnis der Phänomenologie vorausgesetzt wird. In diesem Medium nun zeigt sich das Denken als die Bewegung, sich aus der Unmittelbarkeit heraus hin zur höchsten Konkretion, der absoluten Idee oder der logischen Idee als des Absoluten, zu entfalten, wobei es auf jeder erreichten Stufe die Erfahrung des Widerspruchs macht, der solange immer wieder überwunden werden muß, bis er durch die göttliche Idee "gedeckt" und in ihr aufgehoben wird. Zunächst ist jedoch das reine Wissen völlige Bestimmungslosigkeit und Leere. Es hat "Ich" nicht mehr zum Inhalt, sondern besteht nur in der formellen Identität, der abstrakten Gleichheit mit sich. Hegel bezeichnet diese Kategorie als reines Sein; es ist der bloße Anfang, das Unmittelbare schlechthin. Weil nun das reine Sein eben das vollkommen Inhaltsleere ist, wird im zweiten Satz die Identität von Sein und Nichts behauptet. Darin aber ist der Widerspruch vorhanden, daß Sein und Nichts in ihrer Einheit zugleich absolut verschiedene sind. Ihre Vereinigung ist als "Identität der Identität und Nichtidentität"28 aufzufassen, womit die erste noch ganz abstrakte Definition des Absoluten gewonnen ist. Auf dieser Stufe zeigt sich die Vereinigung noch als unerfüllte, der Widerspruch als unerträglich. Sein und Nichts haben daher ihre Wahrheit in einem Dritten, dem Werden, das sich zum Konkreten hin bestimmt. Hegel will deutlich machen, daß die "Natur des Denkens selbst die Dialektik ist"29, daß die Widersprüche, in welche die verständige Reflexion notwendig gerät, von ihr auch überwunden werden müssen und sie sich, indem sie im Nichtidentischen das Identische als das Wahre auffaßt, letztendlich als Vernunft, als Geist erweist, der "verständige Vernunft oder vernünftiger Verstand"30 ist. Weil die Philosophie die Gewißheit des natürlichen Bewußtseins, das die Verstandesansicht verabsolutiert, niederschlägt, ist sie auch Skeptizismus und zeigt die Vernunft von ihrer negativen Seite. Aber, so Hegel, komme es vor allem darauf an, im Negativen ebensosehr das Positive zu erkennen, denn das Ergebnis der Vernichtung des Widerspruchs sei nicht das "abstrakte Nichts", sondern lediglich "Negation seines besonderen Inhalts (...) die Negation der bestimmten Sache", und habe somit ein Resultat, in dem "wesentlich das enthalten ist, woraus es resultiert."31 Die Einsicht in das konstruktive Wesen des Negativen macht die positive oder spekulative Seite der Vernunfterkenntnis aus. Das Spekulative ist Affirmation, das Begreifen der Einheit im Entgegengesetzten, wobei dieses in jener Bestehen hat, und macht die Philosophie zum vollendeten Skeptizismus. Ein solcher löst nicht alle Bestimmtheit in der Verneinung auf, sondern er weiß den Widerspruch als notwendige Krise, die das Denken zu einem Akt der Besinnung führt, durch den es seine Eigentlichkeit erringt; denn erst, wenn er den Schmerz der Zerrissenheit erfahren hat, gelangt der Geist zur Erkenntnis dessen, was er ist.  

    Die Gedankenleistung Hegels zeigt, was Philosophie vermag, aber auch, wo ihre Gefährdung liegt, wenn sie die begriffene Organisation des Ganzen sein und selbst noch die Geschichte in sich aufgehoben wissen will. Oft genug beweist dann diese, daß sie sich dem kühnen Zugriff des Begriffs entzogen hat und durchaus noch lebendig ist, indem sie ihrerseits jene Philosophie aufhebt. So konnte oder wollte Hegel, der in seinem System das Absolute und im Grunde auch das Weltgeschehen für vollendet glaubte, nicht einsehen, daß seine Idee vom großen Prozeß über ihn selbst hinauswies und er ein dekonstruktivistisches "Umschlagen" der Geschichte des Denkens geradezu provozierte. Aber wendet man den Blick auf eine Gegenwart, die in der Dekonstruktion verharrt und meint, das Denken könne nur noch in der Bejahung dieses Zustandes produktiv sein, so kann man ein Interesse besonders an den Motiven des Hegelschen Denkens auch heute für berechtigt halten. Denn eine Philosophie, die ihr Bedürfnis aus der Entzweiung schöpft, nur um sie zu affirmieren, verdeckt die Probleme der Zeit mehr, als das diese aufgezeigt oder gar gelöst würden. Letzteres jedoch erfordert, wenn nicht auf halber Strecke (etwa beim bloßen Protokollieren) stehen geblieben werden soll, allemal vernünftiges und damit auf gewisse Weise auch spekulatives Denken.  

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    1) G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik, Bd. 1, Frankfurt am Main 1986, S.44.  
    2) In diesem Sinne kritisiert die Postmoderne die Moderne überhaupt, wobei Hegel als deren herausragender Exponent zu gelten hat.  
    3) Vgl. Dieter Henrich, Hegel im Kontext, Frankfurt am Main 1971, S.41-61, und Wilhelm Dilthey, Jugendgeschichte Hegels, Ges. Schr. Bd.4, Stuttgart 1959.  
    4) G.W.F. Hegel, Theologische Jugendschriften, hrsg. von Hermann Nohl, Tübingen 1907, unver. Nachdruck 1966, S.212.  
    5) Vgl. Bernhard Lypp, Über die Wurzeln dialektischer Begriffsbildung in Hegels Kritik an Kants Ethik. In: Dialektik in der Philosophie Hegels, hrsg. von Rolf-Peter Horstmann, Frankfurt am Main 1989, S.295-315.  
    6) Vgl. Immanuel Kant, Werke, Bd.VII, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main 1989, A 14-16 und A 128-132.  
    7) B. Lypp, aaO., S.304.  
    8) Vgl. D. Henrich, aaO., S.18-22,65,66 und Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Stuttgart 1961, Bd.4, S.216, "Urteil und Sein".  
    9) Hegel, Jugendschriften,aaO., S.376.  
    10) Henrich, aaO., S.36.  
    11) Pöggeler, Otto, G.W.F. Hegel, Philosophie als System. In: Grundprobleme der großen Philosophen, Neuzeit II, Göttingen 1988, S.156.  
    12) G.W.F. Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie, Stuttgart 1982, S.30.  
    13) Ebenda, S.31.  
    14) Ebenda, S.35.  
    15) Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1973, B 368ff.  
    16) Hegel, Differenz, aaO., S.56.  
    17) G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1952, S.70.  
    18) Ebenda, S.71.  
    19) Ebenda, S.74.  
    20) Ebenda, S.72.  
    21) Ebenda, S.75.  
    22) Ebenda, S.19.  
    23) G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Bd. III, Frankfurt am Main 1986, §413, S.199.  
    24) Ebenda, §414, S.201.  
    25) Hegel, Phänomenologie, aaO., S.66.  
    26) Ebenda, S.24.  
    27) Hegel, Enzyklopädie, Bd. I, aaO., §20, S.72.  
    28) Hegel, Logik, aaO., S.74.  
    29) Hegel, Enzyklpädie, Bd.I, aaO, §11, S.55.  
    30) Hegel, Logik, aaO., S.17.  
    31) Ebenda, S.49.