Königin oder Magd?Zur Zukunft der Philosophievon Walther Ch. Zimmerli (Öffentliche Abschiedsvorlesung, gehalten am 25. Juli 1996 in Bamberg) |
![]() Doch nicht nur die philosophischen Helden scheinen müde geworden zu sein: die Philosophie-Journaille ist es offenkundig auch. Alljährlich - sozusagen als Sommerlochfüller - berichten die Magazine von der Krise der Philosophie. War es noch vor einigen Jahren (rühmlicherweise sogar unter Bezug auf Bamberg) das Abdanken der Denker (1), das der SPIEGEL konstatierte und dem (rühmlicherweise ebenfalls mit Bezug auf Bamberg) der FOCUS widersprach (Wir danken nicht ab, wir mischen uns ein! (2)), so ist es in diesem Sommer immerhin nur noch die akademische Philosophie (und zwar - wenn auch indirekt - wieder mit Bezug auf Bamberg): Philosophie floriert wieder - jenseits der Universitäten allerdings, schlagzeilt der SPIEGEL unter dem Titel „Nachsommer des Denkens"(3). Ob da eventuell einer seinen Stifter falsch verstanden hat? Jostein Gaarder scheint das Maß aller Dinge zu sein, sozusagen „Philosophie nach dem Gaardermaß". Nicht nur Vittorio Hösle wird, wie der SPIEGEL weiß, einen Philosophischen Briefwechsel für Erwachsene und Kinder herausbringen, sondern Roland Simon-Schaefer hat schon, wie der SPIEGEL offenbar noch nicht weiß, seine Kleine Philosophie für Berenike (4) - studentengeldbeutelfähig - bei Reclam publiziert. Wird die große Philosophie immer kleiner, erwartet uns demnächst die Säuglingsphilosophie Marke „Deutsche Welle", sozusagen „Da-da-da"? Daß Gaarders Sofies Welt (5) allein auf Deutsch „bislang über 1,7millionenmal verkauft, auf Kassette erhältlich und bald auch als Musical zu erleben" ist, kann jedoch schwerlich als Indiz für ein wiedererwachtes „Bedürfnis der Philosophie" (6) gelten, eher schon als eine Reaktion auf ein doppeltes Versagen: einerseits ein Versagen der allgemeinbildenden Schulen (deren Domäne Sofies Welt eigentlich wäre), andererseits auf ein Versagen der professionellen Philosophie - da muß dem SPIEGEL-Artikelschreiber des diesjährigen Philosophienachrufs in der Tat recht gegeben werden. Die akademische Philosophie hat die Zeichen der Zeit vielleicht in der Tat nicht richtig verstanden, oder „sie liest sie" - um eine alte Pointe der „Lach- und Schießgesellschaft" zu variieren - „von der Sanduhr ab". Jedenfalls rieselt es in ihr, und zwar nicht zu knapp ... Nun soll es im folgenden weder um Zunftschelte (darin haben andere mehr Übung als ich) noch um Nestbeschmutzung gehen (das kann nur jemand, der ganz drin sitzt), sondern um eine Diagnose „sine ira", aber „cum studio", nicht im Gestus des zornigen jungen Wilden (der mir aus doppeltem Grunde nicht ansteht), aber in demjenigen des eifrigen Denkens, anders (und natürlich mit Hegel): in der „Anstrengung des Begriffs"(7). Dazu muß die „Frage nach der Philosophie"(8) wiederentdeckt werden. Nun weiß, wer sich ein wenig mit dem philosophischen Nachdenken über die Zeit befaßt hat, daß sich solche Fragen, genauer hinsichtlich ihrer temporalen Struktur betrachtet, nicht so sehr als substanzmetaphysische, sondern mehr als normative erweisen: ‘Was ist Philosophie?’ wird schon bald zur Frage ‘Was soll Philosophie?’, anders: zur Frage nach Rolle und Funktion der Philosophie, mithin zur Frage Wozu (noch) Philosophie? (9). Und diese wiederum kann ihren nicht kontrafaktischen Sinn nur gewinnen in der temporalen Wendung als Frage nach der „Zukunft der Philosophie". Daß die Philosophie eine Zukunft haben wird, darf als gesichert gelten. Das liegt nicht an äußeren Anlässen (die es, weiß Gott, auch gibt), sondern an der Selbstdefinition der Aufgabe der Philosophie: nicht nur, aber doch mindestens immer auch ihr eigener Doktor, Pfarrer und Totengräber ineins zu sein. Und es läßt sich nun einmal nicht bestreiten, daß Ärzte von der Krankheit, Pfarrer vom Leben und Sterben und Totengräber vom Gestorbensein anderer leben. So ist denn die Rede vom „Ende der Philosophie" (aus ähnlichen Gründen n.b. wie diejenige vom „Ende der Geschichte") ebenso wohlmeinend wie töricht. Die Philosophie, genauer: die philosophische Reflexion, die sich durch konstitutive Zweckfreiheit und Grenzüberschreitung auszeichnet, überlebt auch noch ihr Absterben, ja: sie lebt geradezu davon. In
fünf gedanklichen Rundgängen möchte ich zum Zwecke der Wiederentdeckung
der Frage nach der Philosophie ein Bild variieren, nämlich dasjenige
von der Königin und der Magd oder - less politically correct - dasjenige
vom Herrn und Knecht. In einem ersten Schritt soll der Frage nach der philosophischen
Bestimmung der Königin bzw. des Herrn (I), in einem zweiten Schritt
derjenigen des Knechts bzw. der Magd nachgegangen werden (II). Dabei wird
sich eine zweifache Bedeutung der „Magd"-Rolle zumindest assoziativ herausarbeiten
lassen: Lange vor der Debatte um „ancilla theologiae" hallte die Geschichte
der Philosophie bereits vom Gelächter der thrakischen Magd wider,
mit dem/der sich mithin der dritte Teil befassen wird (III). Der vierte
Schritt dient der Anknüpfung an die fast vergessene Bedeutung des
Ausdrucks „Philo-sophie" und diskutiert mithin die Geliebte mit den
vielen Gesichtern (IV), um einen Aufsatztitel von Norbert Hinske zu
zitieren (10). Daraus läßt
sich als Fazit ein Plädoyer für eine problemorientierte und lebensnahe
eklektische Systemphilosophie ableiten (V), deren pragmatischer Vertreter
vor nahezu dreihundert Jahren Gottfried Wilhelm Leibniz gewesen ist.
Und da gilt es dann, nochmals nachzufragen. Beim Ahnvater Platon konnten wir im Dialog Euthydemos nicht etwa hören, daß die Philosophie eine Königin sei, sondern eine „basilike techne" (13), eine königliche Kunst, anders: die Kunst der Könige. Und da ist man dann schnell mit der Assoziation zur Hand, die sich mit dem sog. „Philosophenkönigssatz" (14) von Platon verbindet: Philosophie sei eben die königliche Kunst, weil der Philosoph nach Platons Utopie König sein solle. Doch bei beidem ist Vorsicht geboten: Weder nämlich führt die „königliche Kunst" des Euthydemos problemlos zur Wahrheit, geschweige denn zur Herrschaft über die anderen Wissenschaften, noch besagt der Philosophenkönigssatz, was er zu besagen scheint: a) Die „königliche" Kunst oder Technik des Euthydemos führt nämlich in die Auswegslosigkeit des Denkens, die Aporie: „Als wir an die königliche Kunst kamen und diese in Betrach-tung zogen, ob sie etwa die wäre, welche Glückseligkeit gewährt und bewirkt: so gerieten wir eben da erst in ein neues Labyrinth, und wo wir glaubten, am Ende zu sein, mußten wir wieder umwenden und befanden uns wie am Anfang der Untersuchung, indem uns noch immer ebenso viel fehlte, als da wir zuerst die Frage aufwarfen." (15) b) Und was den „Philosophenkönigssatz" angeht, ist er bei Platon eindeutig konditional, genauer: kontrafaktisch formuliert: „Wenn nicht, sprach ich, entweder die Philosophen Könige werden in den Staaten oder die jetzt sogenannten Könige und Gewalthaber wahrhaft und gründlich philosophieren und also beides zusammenfällt, die Staatsgewalt und die Philosophie [...], eher gibt es keine Erholung von dem Übel für die Staaten, [...] und ich denke auch nicht für das menschliche Geschlecht ...." (16). Und man kann nur hinzufügen: Bislang ist jedenfalls - abgesehen von Platons gescheitertem eigenen Experiment auf Sizilien - die Probe aufs Exempel nie gemacht worden - zum Glück! Was aber gilt es - dem Euthydemos zufolge - zu tun, wenn denn die „königliche Kunst" auch in die Aporie führt? Offenbar zweierlei: zum einen die Aporie als den Weg des Philosophierens erkennen, und zum anderen nicht den Philosophen nachlaufen, sondern selbst denken. Mit den Schlußworten Platons im Euthydemos: „Sondern die laß ganz beiseite, die sich der Philosophie befleißigen, ob sie gut sind oder schlecht, und nur die Sache selbst prüfe recht gut und gründlich; und erscheint sie dir als schlecht, so mahne jedermann davon ab, nicht nur deinen Söhnen, er-scheint sie dir aber so, wie sie auch mir vorkommt, so gehe ihr getrost nach und übe sie, du selbst, wie man zu sagen pflegt, und deine Kinder." (17) Was also lehrt das Nachdenken über die Philosophie als „Königin der Wissenschaften"? Sie lehrt, daß es keinen Königsweg zur Philosophie gibt, selbst wenn diese eine königliche Kunst oder gar die Königin der Wissenschaften sein sollte. Das Königliche daran liegt vielmehr in der Anerkennung der Aporie und damit in der Aufforderung zum Selbstdenken. Aber
habe ich nicht - so setzt mir nun die Stimme philosophischer Reflexion
zu - eben das nicht getan, sondern einem Philosophen geglaubt, wenn auch
einem so gewichtigen wie Platon? Die Antwort ist eindeutig: Ja. Ich habe
mich durch einen Philosophierenden, nämlich Platon, dazu auffordern
lassen, nicht den Aufforderungen anderer Philosophen zu folgen, sondern
alles selbst zu prüfen. Das aber sieht nur scheinbar wie ein Widerspruch
aus, da sowohl meine Maxime wie auch das Verfahren selbst eine Bezugnahme
auf schon gedachte Gedanken voraussetzt: Prüfen läßt sich
nur, was bereits existiert. Selbstdenken heißt immer, Ansichten zu
prüfen. Es ist nur eine Frage der Bildung, ob man diese Auffassungen
für seine eigenen hält oder weiß, von wem sie geäußert
wurden. Es ist daher für den Gebildeten unter den Verächtern
sekundären Philosophierens auch gar nicht so leicht, der Empfehlung
Jürgen von Kempskis zu folgen und einmal „Narr auf eigene Faust ohne
Platon" (18) zu sein.
Die Geschichte der Philosophie ist reich an Domestizierungsversuchen des Philosophierens durch andere Kräfte, besser: an Beispielen des Scheiterns solcher Versuche. Das in dieser Hinsicht wohl populärste Beispiel ist die Formel des 1057 zum Kardinalbischof von Ostia geweihten Scholastikers Petrus Damiani, die Philosophie - und das bedeutete damals die machtvoll ihr Haupt erhebende, argumentative Dialektik - habe sich in Glaubensdingen der Theologie „wie eine Magd ihrer Herrin" zu unterwerfen und ihr willig zu dienen: „Sed velut ancilla dominae quodam fa-mulatus obsequio subservire" (20). Daß sich die Dialektik von Herr und Knecht als Dialektik von Herrin und Magd hier alsbald so entwickeln könnte, daß die Magd zur Herrin und jene zu dieser werde, hatte Thomas von Aquin zwar nicht vorausgesehen, aber mit seiner Überlegung, die philosophische Dialektik könne immerhin die „praeambulas fidei" als gleichsam transzendentale Voraussetzungen des Glaubens klären, de facto zu verhindern versucht; und zwar mit gutem Erfolg: Bis in die Neuzeit hinein hat sich die Vorstellung gehalten, die philosophische Fakultät diene der allgemeinen Ausbildungsdienstleistung, auf die die theologische Fakultät dann aufbaue. Noch Immanuel Kant bezieht sich auf diese Struktur, deutet aber bereits die Umkehrung der Verhältnisse an: „Auch kann man allenfalls der theologischen Facultät den stolzen An-spruch, daß die philosophische ihre Magd sei, einräumen (wobei doch noch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau d i e F a c k e l v o r t r ä g t oder d i e S c h l e p p e n a c h t r ä g t ); wenn man sie nur nicht verjagt oder ihr den Mund zubindet; denn eben diese Anspruchslosigkeit, blos frei zu sein, aber auch frei zu lassen, blos die Wahrheit, zum Vortheil jeder Wissenschaft, auszumitteln und sie zum beliebigen Gebrauch der oberen Facultäten hinzustellen, muß sie der Regierung selbst als unverdächtig, ja als unentbehrlich empfehlen." (21) Magd zu sein und Dienstleistungen zu erbringen - darin besteht offenbar nicht eine Schwäche, sondern eine Stärke des Philosophierens. Unter den Bedingungen der Säkularisierung wird aus der leibeigenen Funktion allerdings die eines selbständigen Dienstleistungsanbieters. Aus der vermeintlichen „Magd der Theologie" wird die ebenso vermeintliche „Königin der Wissenschaften", von der ich vorhin sprach. Daraus nun läßt sich lernen, daß Philosophie, deren Wahrheit als königliche Kunst darin bestand, den aporetischen Gedanken ihres eigenen Selbstdenkens durch eben dieses Selbstdenken zu aner-kennen, diese königliche Leistung als Dienstleistung anderen gegenüber verrichtet. Im Klartext: Philosophie als Selbstdenken ist nicht nur parasitär, sondern zugleich transdisziplinär. Sie hat nicht nur das Recht, sondern die sich aus ihrer Magdrolle ergebende Pflicht, sich in den Dienst anderer Formen des Denkens und Handelns zu stellen. Wer davor zurückscheut, ist kein Philosoph und keine Philosophie, soviel philosophische Meinungen er oder sie sonst auch kennen mögen ... Erneut
ist uns die Präparierung der Vorstellung, Philosophie sei konstitutiv
Dienstleistung, nur parasitär und aufgrund der Bezugnahme auf die
Überlegungen anderer gelungen. Allerdings kann dies nach dem zuvor
Entwickelten nun kein Einwand mehr sein: Wenn Philosophieren in der Anerkennung
der durch Philosophieren selbst hervorgebrachten aporetischen Situationen
besteht, dann befindet sich ein solches Verfahren nicht nur nicht im Widerspruch
zur Bestimmung der Philosophie, sondern bestätigt diese sogar.
Trotzdem aber geht die Rechnung hier nicht so leicht auf: Am Horizont dräut gleichsam die ‘andere Magd’. Ich meine die thrakische Magd, von der Platon seinen Sokrates im Dialog Theaitetos berichten läßt, um zu illustrieren, daß der wahre Philosoph nach Pindaros überall umherstreife, „was auf der Erde und was in ihren Tiefen ist messend, und am Himmel die Sterne verteilend, und überall jegliche Natur alles dessen was ist im Ganzen erforschend, zu nichts aber von dem, was in der Nähe ist, sich herablassend" (22). Dem Kenner wird auffallen, daß dies die Formeln sind, die die Anklage im Prozeß gegen Sokrates vorbrachte. Im Theaitetos indessen erläutert Sokrates diese Formel folgendermaßen: „Wie auch den Thales [...], als er, um die Sterne zu beschauen, den Blick nach oben gerichtet in den Brunnen fiel, eine artige und witzige thraki-sche Magd soll verspottet haben, daß er, was im Himmel wäre, wohl strebte zu erfahren, was aber vor ihm läge und zu seinen Füßen, ihm unbekannt bliebe. Mit diesem nämlichen Spotte nun reichte man noch immer aus gegen Alle, welche in der Philosophie leben." (23) Fast alles stimmt hier - die dramatis personae, die Rollenverteilung und die Vorurteile; nur eins stimmt nicht: die Rolle der Magd. Denn offensichtlich repräsentiert sie weder die Philosophie als Magd noch die Philosophie als Königin. Vielmehr scheint es so zu sein, daß sie die Stimme des Volkes, die ‘communis opinio’ oder den ‘common sense’ verkörpert, jenen gesunden Menschenverstand nämlich, der über die Weltfremdheit der Philosophie nur spotten kann. Allerdings liegt diese Deutung durch den platonischen Überlieferungskontext so sehr auf der Hand, daß sich schon deswegen Mißtrauen regen muß. Vielleicht ist hier eine andere Interpretation angebracht: Muß nicht Philosophie sich den Anforderungen des gesunden Menschenverstandes stellen? Muß nicht das Gelächter der thrakischen Magd sie aufschrecken und ihr ihren neuen Platz zuweisen? Ist nicht der Autor unseres eingangs erwähnten SPIEGEL-Artikels, der der Philosophie erneut die Leviten gelesen hat, unsere heutige thrakische Magd? Und verspotten sie und er nicht zu Recht die versponnene, weltfremde Art der Philosophen einst und jetzt? Die philosophiehistorisch Kundigen indessen werden mit dieser Interpretation kaum zufrieden sein, paßt sie doch ganz und gar nicht mit dem zusammen, was wir sonst so über Thales von Milet wissen. Keineswegs ein ‘Hans-guck-in-die-Luft’, scheint er vielmehr ein sowohl politisch als auch wissenschaftlich und nicht zuletzt lebensweltlich kluger, gewiefter und pragmatischer Denker gewesen zu sein. Stellt man dies in Rechnung, wandelt sich die Deutung der Platon-Stelle erneut. Wie soll denn das zugegangen sein, daß Thales, den Himmel beobachtend, in den Brunnen gefallen ist? Was genau hat er und wie beobachtet? Um die Sonne kann es sich kaum gehandelt haben, da diese sich mit unbewaffnetem Auge nur schwer beobachten läßt. Von geschwärzten Gläsern (oder gar Designer-Sonnenbrillen) berichtet Platon aber hier ebenso wenig etwas wie im Höhlengleichnis. Also beobachtet Thales wohl die Sterne oder den Mond. Was also wäre, wenn die Geschichte ganz anders zu deuten wäre: daß nämlich die thrakische Magd alles mißverstanden und Thales zu Unrecht ausgelacht hätte. Dieser wäre dann nämlich gar nicht in den Brunnen gefallen, sondern er wäre in den Brunnen hinabgestiegen, gerade um die Gestirne besser beobachten zu können, da die Brunnenöffnung für den in dem Brunnen sich Befindenden wie eine Art Fernrohr und Filter zugleich wirkte. Wer zuletzt lacht, lacht am besten, und es wäre in diesem Falle nicht der ‘common sense’. Was
lehrt uns die Geschichte von der thrakischen Magd und den verschiedenen
Interpretationen, die die Rolle der Philosophie jeweils neu beleuchten?
Gewiß eines: daß es ebenso wenig angeht, das Philosophieren
nur als eine Verlängerung des ‘common sense’ mit anderen Mitteln zu
verstehen, wie umgekehrt, das Philosophieren gänzlich vom ‘common
sense’ abzukoppeln. Philosophische Spekulation stellt häufig, vom
gesunden Menschenverstand ausgehend, durch methodische Weiterentwicklung
des eigenen Gedankens diesen vor ihm fremdartig und unlösbar scheinende
Probleme, sie konfrontiert ihn mit einer „verkehrten Welt". Um es erneut
mit Hegel zu sagen: „Die Spekulation versteht deswegen den gesunden Menschenverstand
wohl, aber der gesunde Menschenverstand nicht das Tun der Spekulation."
(24) Die thrakische Magd hat zwar
mit ihrem Spott über die Philosophie häufig Unrecht, aber sie
ist grundsätzlich im Recht, wenn sie von dieser verlangt, sie dürfe
nicht in abgehobenen Sphären verweilen, sondern sie müsse sich
der natürlichen Vernunft erklären und diese auf ihr eigenes Niveau
heben können.
Philosophie hat aber - und das ist in all den Debatten um ihre bestsellerfähige Vermarktung eher untergegangen - sich zwischen Skylla und Charybdis der Philodoxie und der Kosmosophie hindurch ihre eigene Identität zu wahren. Philodoxie besteht, wie wir von Platon lernen können, in dem akkumulierenden Sammeln von Meinungen anderer, das dann erst die Ausbeutung erlaubt, von der Lichtenberg sprach. Kosmosophie dagegen ist die bloße Weltweisheit, nicht Philosophie für die Welt, sondern Sofies Welt. Während sich in der Philodoxie das Philein, die Liebe und Sehnsucht, nicht auf die Weisheit, sondern auf die bloßen Meinungen richtet, hat die Kosmosophie die liebende Zuwendung vergessen. Philosophie, ob Königin oder Magd, ist damit selbst, wie Norbert Hinske formuliert hat, die Geliebte mit den vielen Gesichtern (25). Und darin steckt erneut ein Zweifaches: 1. Nie vergessen werden darf, daß Philosophie etwas mit Liebe zu tun hat, d.h. mit einer Sehnsucht, die sich durch platte Worte nicht befriedigen läßt. Wer keine Sehnsucht danach verspürt, mehr zu wissen, und das heißt immer: mehr zu denken und mehr zu fragen als das, was auf der Hand liegt, sollte nicht Philosophie betreiben. Wenn Platon und ihm folgend Schelling davon sprechen, zum Philosophieren müsse man geboren sein, dann ist damit nichts anderes gemeint als dies: wen philosophische Fragen nicht umtreiben, wen die „Metaphysik als Naturanlage" (26) nicht ständig beunruhigt, der kann durch keine Kunst, durch keine Seminardidaktik oder Vorlesungsrhetorik (und sei es auch diejenige einer Abschiedsvorlesung) dazu gebracht werden zu philosophieren. 2. Diese Geliebte hat aber viele Gesichter. Und damit ist nicht nur gemeint, was ebenfalls schon Hegel wußte: daß jede Philosophie ihre eigene Zeit in Gedanken erfaßt, sondern darüberhinaus auch, daß das Philosophieren, das uns Zukunftaufgabe ist, in einer pluralistischen Gesellschaft eben gerade das Bedenken von Vielheit ist. Es geht also darum, unsere eigene Zeit, die ich als das ‘technologische Zeitalter’ (27) zu bezeichnen und zu analysieren pflege, als konstitutiv pluralistische Zeit verstehen zu lernen. Vor acht Jahren, als ich nach Bamberg kam, habe ich eine einfache Komplementaritätsthese vor dem Hintergrund dessen vertreten, was ich das „antiplatonische Experiment" (28) nannte. Unsere Tradition ist, was ihre geistigen Gehalte und die Grundstellung des Gedankens trifft, nämlich - allen aristotelischen Veränderungen zum Trotz - durch und durch platonisch. Die metaphysische Grundrelation von Einheit und Vielheit, die unser Denken bis ins 20. Jahrhundert hinein bestimmt, ist durch Platon (oder jedenfalls durch seine Wirkungsgeschichte) vorgegeben: Einheit ist der idealen, Vielheit der phänomenalen Welt zuzuordnen, wobei die ideale Welt positiv, die phänomenale negativ konnotiert ist. Im Wettstreit der Einheit mit der Vielheit, der zugleich ein Wettstreit der immerwährenden Ruhe des Parmenides mit der ebenfalls immerwährenden Bewegung des Heraklit ist, entscheidet Platon gleichsam auf hauchdünnen Punktesieg der Einheit und der Ruhe. Was wir gegenwärtig unternehmen, ist insofern ein „antiplatonisches Experiment", als wir eine zweieinhalb Jahrtausende alte Tradition dadurch zu beenden versuchen, daß wir eine technologische, weltweite Vereinheitlichung der Phänomene mit einem Sprung in die Vielheit der idealen Welt zu beantworten beginnen. Wie sich das im einzelnen kognitiv und normativ ausnimmt, wie die Erkenntnistheorie des Pluralismus und seine Ethik aussehen wird, ist eine Frage, die die Philosophie der Zukunft zu klären haben wird; sicher ist jedenfalls, daß der platonische Denkgestus von uns probehalber (daher ‘Experiment’) verabschiedet wird. Vor
acht Jahren habe ich außerdem noch eine relativ einfache Komplementaritätsthese
vertreten, derzufolge das, was in phänomenologischer Hinsicht ‘technologisches
Zeitalter’ genannt wird, in ideell-kultureller Hinsicht ‘Postmoderne’ heiße.
Unterdessen bin ich eines besseren belehrt: Was ‘Postmoderne’ genannt wurde,
war eine der kulturphilosophisch einseitigen Verabsolutierungen eben jenes
kulturellen Pluralismus, den es nun reflexiv philosophisch zu erfassen
gilt und dessen realmonistisches Gegenstück die technologische Zivilisation
mit all ihren Verwerfungen und Problemen ist. Mit anderen Worten: Postmodernes
Theoretisieren pflegte sich mit der Vielheit so zu befassen, als ob sie
selbst ein Wert sei, den es zu erhalten, zu mehren, ja: vielleicht erst
zu erringen gelte. Was wir zu erfassen haben, ist dagegen ein reflektierter
Pluralismus zweiter Stufe, der nicht die bloß kontingente Vielheit,
sondern den Pluralismus erster Stufe als Wert ansieht. Seine Norm heißt:
Alles soll der Maxime genügen, daß Pluralismus, also eine Grundhaltung
existieren möge, die ihrerseits zwar Vielheit ermöglicht, aber
nicht in Vielheit aufgeht!
Kann das die akademische Philosophie leisten? - Wenn man sie sich gegenwärtig betrachtet, wohl kaum. Aufgesplittert ist sie in verschiedene, sich als Philosophie mißverstehende Methoden: die Analytiker, die Dialektiker, die Dekonstruktivisten, die Hermeneutiker, die Transzendentalphilosophen, und wie sie alle heißen mögen. Den Analytikern, die im Ausgang von der richtigen Einsicht, daß durch schmutzige Brillen nicht scharf zu sehen ist, das Brillenputzen zu ihrem Geschäft erklärt und dabei vergessen haben, daß sie ursprünglich durch die geputzten Brillen etwas sehen wollten, kann jedenfalls die Lösung dieser Aufgaben nicht zugetraut werden. Die Dialektiker, derzeit etwas auf dem Rückzug, haben immer schon eher zuviel als zuwenig erklärt und sind dadurch zum Teil unglaubwürdig geworden. Die Dekonstruktivisten sind in ihrem parasitären Geschäft darauf angewiesen, daß andere Philosophien als Wirte fungieren; den Hermeneutikern fehlt die kritische, den kritischen Theoretikern die systematische Kompetenz, und den Transzendentalphilosophen fehlt es an Realphilosophie. Das einzige, was in Anbetracht der geschilderten Aufgaben der Philosophie zukunftsfähig zu sein scheint, ist die Rehabilitierung einer alten Tugend, die in der nachhegelschen Moderne in Vergessenheit, ja: geradezu in Verruf geraten ist. Ich meine den Eklektizismus. Nachdem die läppische Postmoderne als Episode durchschaut und zu Ende gegangen ist, läßt sich ihr pluralistischer und eklektischer Kern dadurch retten, daß nicht die Zugehörigkeit zu einer Methode oder das Bekenntnis zu einer Sorte von System bzw. zu einem Denker zum Schibboleth gewichtigen Philosophierens gemacht wird. Alles zu prüfen und das Gute zu behalten, ist eine nicht nur für die Bibel taugliche Empfehlung. Es ist vielmehr die Maxime der Aufklärung selbst, zu der wir uns nun, nachdem die Phase der Aufklärungsschelte vorübergezogen ist, wieder bekennen dürfen. Noch der Artikel Eclectisme in der Encyclopédie ou Dictionnaire Raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers (29) von Diderot und D’Alembert preist den Eklektizismus, und das ganze 18. Jahrhundert ist des Lobes voll für diejenigen, die sich nicht durch Schulzugehörigkeit oder durch Hörigkeit das Selbstdenken verbieten lassen. Die Philosophie der Zukunft bleibt ihrer großen alten Tradition treu, indem sie nach dem Intermezzo des 19. und 20. Jahrhunderts vom Originalitätswahn Abschied nimmt. Das offene Bekenntnis zu einem Pluralismus im Sinne des methodischen Eklektizismus befreit unseren Blick auf die Geschichte für die Einsicht, daß es keine große und tiefe Philosophie gibt, die nicht eklektisch gewesen wäre. Noch im 18. Jahrundert war die Einsicht ‘communis opinio’, daß das Große an Leibniz in seinem Eklektizismus bestanden habe. Der eklektischen Philosophie eines aufklärerischen Pluralismus ist kein Thema fremd. Sie kann sich den Grundfragen der Philosophie ebenso zuwenden wie denjenigen der Einzelwissenschaften, denen gegenüber sie dienstleistungsverpflichtet ist. Und sie kann damit auch den vielfältigen Aufgaben gerecht werden, die von außen an sie herangetragen werden. Sie ist die Philosophie der Zukunft. Es ziemt sich, als Scheidender den Bleibenden zu danken und ihnen gute Wünsche zu hinterlassen. Der Otto-Friedrich-Universität, der Stadt Bamberg sowie allen, die weder zur einen noch zur anderen gehören, aber heute trotzdem hier sind, danke ich für acht Jahre eines intensiven und erfüllten gemeinsamen Philosophierens. Einige werden sich fragen, warum ich Bamberg verlasse, bevor ich das von mir selbst benannte Ziel, an der Errichtung eines „Regnitz-Princetons" mitzu-wirken, erreicht habe. Nun, zum einen - und auch dafür danke ich Ihnen - ist es in gewissem Sinne erreicht: Die Bamberger Philosophie ist zwar nicht in aller Munde, aber zumindest ab und zu im SPIEGEL. Zum anderen ist nicht alles, was man vorhat, in einem Leben und an einem Orte zu erreichen. Insofern bleibt, wenn denn das „Regnitz-Princeton" noch auf sich warten läßt, nur die Alternative, dorthin zu gehen, wo es Vergleichbares schon lange gibt: Statt „Regnitz-Princeton" auf dem Dach Lahn-Marburg in der Hand. Was die guten Wünsche betrifft, hat mich Schaden klug gemacht. Bei meinem Abschied aus Braunschweig vor acht Jahren habe ich der niedersächsischen Wissenschaftspolitik mehr Glück als Verstand gewünscht. Heute will ich mich darauf beschränken, nicht nur der bayerischen Wissenschaftspolitik, sondern insbesondere der Kulturpolitik der Stadt Bamberg zu wünschen, daß es sich eines Tages nicht nur finanziell, sondern auch kulturell gelohnt haben wird, die Kopie der Villa Massimo dem philosophischen Original-Kulturinstitut vorgezogen zu haben! Anmerkungen: 1 SPIEGEL
Heft 29/1993. S. 124 ff. (back)
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